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Grand Slam - Kapitel 2 - Nachspiel
Eine Story von Moritz
Paul hatte noch nicht einmal die innerste dieser Linien erreicht, als er schon wieder das Gesicht
verziehen musste. Schnell legte er die Hand über seine Augen und tat so, als sei es wegen der
Sonne, die immer noch grell vom Himmel stach. Irgendwie wollte er sich vor Jojo keine Blöße
geben, denn der wirkliche Grund für seine unfreiwillige Gesichtsakrobatik lag natürlich um einiges
tiefer.
Dass die Hoden nach einem saftigen Treffer auch dann noch wehtun konnten, wenn der anfängliche
Schmerztsunami schon lange verebbt war, hatte er ja schon nach jener verhängnisvollen Rauferei
mit seinem Bruder herausgefunden. Aus irgendeinem Grund blieben die Hoden nämlich noch
Stunden danach so empfindlich, dass selbst leichte Bewegungen ziemlich unangenehm waren; was
bei kräftigen passieren würde – Laufen, Kniebeugen oder gar Springen – wollte er sich gar nicht
erst vorstellen. Er hatte nämlich schnell gemerkt, dass es in diesem Zustand bereits eine
Herausforderung war, einfach nur zu gehen. Jedes leichte Schaukeln der Hoden, das er
normalerweise nicht einmal registrieren würde, jagte plötzlich einen winzigen Schmerzblitz durch
seine Samenstränge und direkt nach oben in seinen pochenden Unterbauch. Das Beste war es
deshalb, nach einem „Anschlag aufs Familienministerium“ – noch so eine Wortschöpfung von Ole,
dem Klassenclown – die Beine stillzuhalten und einfach abzuwarten, bis das Schlimmste vorbei
war.
Wenn das nicht ging, machte Paul instinktiv genau dasselbe wie jeder andere Junge auch: Er
spreizte beim Gehen so weit wie möglich die Beine, um zu verhindern, dass seine Hoden unsanft
mit seinen Schenkeln in Berührung kamen oder bei einer besonders unglücklichen Bewegung gar
gequetscht wurden. Bei ihm zu Hause war das auch kein Problem, aber in der Schule konnte dieser
„Cowboy-Gang“ ein erhebliches Risiko darstellen. Im besten Fall zog der betroffene Junge damit
nur diverse hämische Kommentare seiner Kumpel auf sich; im schlimmsten verstand es ein
besonders fieser Kollege als Aufforderung, die nun exponierten Glocken noch einmal zum Läuten
zu bringen. Paul selbst war das bisher zum Glück erspart geblieben, aber ein paar seiner Freunde
hatten das schon mal erleben müssen.
Zumindest in dieser Hinsicht hatte er jetzt Glück im Unglück: Der Tennisplatz war leer und die
Mädchen vom Nebenfeld schon lange verschwunden; außer Jojo konnte ihn also niemand sehen,
und der stapfte genau so komisch dahin wie er. Trotzdem spürte Paul, wie seine Laune mit jedem
Schritt eine Stufe weiter in den Keller ging.
Dafür gab es, zugegebenermaßen, mehrere Gründe. Der offensichtlichste saß natürlich zwischen
seinen Beinen und ließ ihn bei jedem dritten Schritt das Gesicht verziehen. Aber darüber hinaus
begann langsam auch noch die Erkenntnis in sein Gehirn zu sickern, dass er durch den blöden
Unfall mit der Ballmaschine einen ganzen Trainingstag verloren hatte – und potenziell noch einen,
falls seine Hoden morgen immer noch so empfindlich sein würden, dass er sich nicht vernünftig
würde bewegen können.
Und im Augenblick hatte er wenig Hoffnung, dass es viel anders kommen konnte. Denn was gerade
zwischen seinen Beinen los war, überstieg wirklich alles, was er je erlebt hatte. Egal, wie er sich
bewegte oder seine Hüfte hielt, jeder Schritt schickte eine neue Woge desselben flauen Gefühls in
seinen Magen, das gerade eben erst vergangen zu sein schien, während seine Hoden sich anfühlten,
als würde jemand sie immer wieder leicht nach unten ziehen. Es war so eine scheußliche Mischung,
dass er zweimal kurz davor war, einfach stehenzubleiben; nur weil er aus den Augenwinkeln sehen
konnte, dass Jojo keine Anstalten machte, langsamer zu werden, zwang er sich dazu, durchzuhalten.
Endlich erreichte er den äußeren Rand des Feldes, wo der Reißverschluss seines schwarzen
Sportrucksacks in der Sonne blitzte. Da er seinen Schläger verstauen wollte, nutzte er die
Gelegenheit, um tief (und sehr, sehr langsam) in die Hocke zu gehen. Paul musste ein erleichtertes
Seufzen unterdrücken, als die Schmerzen in dieser Haltung spürbar abebbten und sich die Übelkeit
allmählich verflüchtigte. Er ließ sich extra viel Zeit damit, den Schläger in den kantigen Rucksack
zu stopfen, dann griff er sich seine giftgrüne Sportflasche und nahm einen tiefen Zug kaltes Wasser.
Er schloss die Augen und genoss das Gefühl, wie die eisige Flüssigkeit seinen erhitzten Körper
erfrischte. Langsam wurden seine Gedanken wieder klarer und er begann zu realisieren, was gerade
passiert war.
Bis gerade eben hatte er geglaubt, relativ genau zu wissen, wie empfindlich seine Hoden inzwischen
waren – was Pauls Meinung nach bei weitem nicht alle Jungen in seinem Alter von sich behaupten
konnten. Wenn er zum Beispiel bloß an seine Kumpel dachte, fielen ihm schon ein paar Glückspilze
ein, die bisher eigentlich nur vom Hörensagen wussten, wie schmerzhaft es sein konnte, einen
Treffer zwischen die Beine zu kassieren. Und viele, die das schon mal durchgemacht hatten,
schienen es eben auch nur einmal erlebt zu haben.
Jojo, der gerade ebenso verdächtig lang an seinem Rucksack herumnestelte wie Paul, war so ein
Fall. Da die beiden schon seit der Grundschule befreundet waren und immer viel Sport zusammen
gemacht hatten, hatten sie einander natürlich auch regelmäßig nackt gesehen, zum Beispiel unter
der Gemeinschaftsdusche in den diversen Sportclubs, in die Jojo ihn regelmäßig geschleppt hatte.
Daher wusste Paul, dass bei Jojo die Pubertät etwas früher eingesetzt hatte als bei ihm selbst; seine
erste Begegnung mit deren unangenehmen Begleiterscheinungen hatte der athletische Junge
allerdings erst vor einem halben Jahr gehabt.
Ironischerweise war Paul daran nicht ganz unschuldig gewesen. Eines Tages hatten die beiden
Jungen sich bei ihm zum ersten Mal einen Kung-Fu-Film angesehen, den sein Vater ihnen geliehen
hatte. Paul fand den Streifen ganz cool; aber Jojo war damals richtig Feuer und Flamme und meinte,
das müssten sie beide unbedingt auch mal ausprobieren. Weil Paul aber keine besondere Lust hatte,
sich in seiner Freizeit verdreschen zu lassen, musste Jojo dieses Abenteuer zur Abwechslung ohne
ihn bestehen. Statt dessen rekrutierte er ausgerechnet Ole, der, rein körperlich gesehen, so ziemlich
der letzte war, dem Paul einen schwarzen Gürtel zugetraut hätte. Aber es stellte sich heraus, dass ihr
gemeinsamer Kumpel nicht bloß einen endlosen Vorrat an schlechten Witzen hatte, sondern auch
von schlechten Filmen: Sein Vater war nämlich im Gegensatz zu Pauls stolzer Besitzer einer ganzen
Videothek an Martial-Arts-Fetzen; und auch wenn Ole natürlich nur die zahmeren davon schauen
durfte, hatte er anscheinend einen beträchtlichen Teil seiner Freizeit genau damit verbracht. Die
beiden bearbeiteten ihre Eltern also so lange, bis sie die Jungen endlich zu einem
Selbstverteidigungskurs in einem örtlichen Dojo anmeldeten.
Die ersten paar Stunden dort verliefen anscheinend relativ ereignislos. Die Trainerin brachte ihnen
und den übrigen Teilnehmern erst einmal die richtige Etikette und ein paar Grundtechniken bei,
anschließend wurden einfache Bewegungsabläufe geübt. Gegen Ende der dritten Stunde durften sie
dann zum ersten Mal Partnerübungen machen. Jojo war natürlich begeistert, schließlich brannte er
darauf, seine neu gelernten „Tricks“ endlich einmal auszuprobieren. Sein Enthusiasmus erhielt
allerdings einen ersten Dämpfer, als er sah, wen man ihm als Partner zugeteilt hatte: Nicht Ole oder
irgendeinen anderen Jungen, sondern ein elfjähriges Mädchen namens Luisa. Der filmreife
Showdown, von dem er wohl geträumt hatte, musste also erst mal ausfallen. Die Ernüchterung hielt
an, als die Trainerin ihm dann noch ein dickes, schwarzes Polster in die Hand drückte: Die
Partnerübung war kein Freistil-Sparring, wie Jojo gehofft hatte, sondern lediglich eine Gelegenheit,
die frisch gelernten Techniken einmal mit Widerstand auszuführen. Etwas lustlos ließ er eine Hand
in die Schlaufe an der Rückseite des Polsters schlüpfen und griff sich mit der anderen den Riemen
am oberen Ende. Dann nahm er einen festen Stand ein – ein Bein zurückgesetzt, Arme mit dem
Polster leicht angewinkelt, wie er es gelernt hatte – und gab seiner „Gegnerin“ das Signal, dass sie
anfangen konnte, während er sich resigniert auf zehn Minuten Langeweile einrichtete.
Der sportliche Junge merkte allerdings schnell, dass seine Erwartung etwas vorschnell gewesen
war, und zwar in dem Moment, in dem Luisas Fuß plötzlich nicht mehr direkt in den schwarzen
Block vor seinem Oberkörper einschlug, sondern mit einer scharfen, sichelförmigen Bewegung
etwas unsanft gegen die Innenseite seines linken Oberschenkels prallte. Verblüfft musste er kurz
seinen Stand nach außen justieren, um nicht ins Ungleichgewicht zu kommen. Gerade noch rechtzeitig, denn
schon führte Luisa dieselbe Technik mit dem anderen Fuß aus, was ihn erneut zur Justierung seines Standes zwang und ihn nun etwas unsicher und breitbeinig im Sparring stehen ließ. Halb durch gute Reflexe, die er sich
auf seiner Odyssee durch die Welt des Sports antrainiert hatte, und halb aus schierem Glück gelang
es Jojo, den Polsterschild gerade noch rechtzeitig vor seinen anderen Oberschenkel zu halten. Nach
zwei, drei weiteren Situationen dieser Art wurde Jojo allmählich klar, dass Luisa neben den vier,
fünf Standardtritten und Standardschlägen, die man ihnen bisher gezeigt hatte, noch ein ganzes Repertoire
anderer Techniken benutzte, die er noch nie zuvor gesehen hatte – außer eben in den Filmen, die er
zusammen mit Ole im Fernsehkeller von dessen Vater geschaut hatte! Mit einem Mal war seine
Übungspartnerin ein ganzes Stück interessanter geworden – vielleicht konnte er sich ja etwas von
dem schwarzhaarigen Mädchen abschauen, das er dann später nutzen würde, um seinen Kumpel in
ihrem ersten richtigen Sparring zu überraschen...
Plötzlich musste er sich so sehr auf seine Gegnerin konzentrieren, dass er kaum noch Kapazitäten
für irgendetwas Anderes hatte. Trotzdem sickerten die Fragen zwischen den Reaktionen auf die
diversen Angriffe des Mädchens nach und nach in seinen Verstand. Woher kannte die
Schwarzhaarige diese Techniken? Er hatte gedacht, der Kurs sei nur für absolute Anfänger gedacht
– oder improvisierte das Mädchen einfach? War sie am Ende ein noch größerer Fan von Kung-Fu-Filmen als er und hatte so viele davon gesehen, dass sie die Bewegungen perfekt nachahmen
konnte?? Oder-
Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Luisa plötzlich das Knie kräftig nach oben riss. Jojo,
der sich inzwischen schon darauf eingerichtet hatte, von dem kämpferischen Mädchen grundsätzlich
das Unerwartete zu erwarten, war im ersten Moment vor allem deshalb irritiert, weil Luisas Knie zu
weit entfernt war, um irgendetwas an ihm zu treffen. In der vagen Annahme, sie hätte irgendwie vor,
ihm die Kniescheibe gegen das Kinn zu stoßen, hob der athletische Junge deshalb instinktiv das
Polster nach oben, um sein Gesicht zu schützen. Dementsprechend sah er nicht, wie Luisa im
nächsten Moment aus der Bewegung heraus ihren angewinkelten Unterschenkel nach vorne
schnellen ließ – und ihr Fuß plötzlich ungehindert zwischen seinen Beinen nach oben stieg! Das
Mädchen war von seiner Reaktion genauso überrascht wie er von ihrer Aktion; aber gerade weil
Jojo so schnell reagiert hatte, konnte sie ihre Bewegung weder abbrechen noch abschwächen, und
einen Moment später schlug ihr Spann auch schon mit einem kurzen, lauten Klatschen in seinem Schritt ein.
Von dem, was dann passierte, hatte Paul zwei verschiedene Versionen gehört. Die eine ungefähr
zehnmal; die stammte nämlich von Ole, der es während der ganzen folgenden Woche zu seiner
Mission gemacht hatte, jedem der Jungen in ihrer Jahrgangsstufe brühwarm davon zu erzählen.
Nach seiner Darstellung „...hat der Jo erst mal null gecheckt, was eigentlich los war, weil er ja wegen
dem Ding vor seinen Glubschern gar nix mitgekriegt hat. Aber ich hab geseh'n, wie er erst mal
richtig die Augen und den Mund aufgerissen hat. Wie'n Fisch! Und so eine Sekunde später oder so
ist der zusammengeklappt wie'n Taschenmesser! Aber er hatte ja noch diesen Klotz am Arm, drum
konnt' er sich nicht mal richtig den Sack halten. Erst wie dann einer dazu ist und ihm das Ding
runtergemacht hat, hat er dann angefangen, sich aufm Rücken von links nach rechts zu schmeißen
wie'n Käfer, der nicht mehr hochkommt!“ Dabei hatte Ole es sich nicht nehmen lassen, Jojo's Mimik
und die diversen Geräusche, die er angeblich von sich gegeben hatte, so anschaulich wie möglich
nachzuahmen, natürlich unter dem johlenden Gelächter der übrigen Jungs.
Jojo's eigener Kommentar zu dem Vorfall war um einiges lakonischer ausgefallen. Als Paul ihn ein
paar Tage später darauf anredete, hatte sein Kumpel nur gemurmelt, „das kleine Biest“ habe
„zugetreten wie ein Pferd“ und dass er „dann halt in die Knie gehen musste“. Er meinte dann bloß
noch, er habe „keine Ahnung gehabt, dass das echt so weh tut“, und das war alles.
Zwar vermutete Paul, dass die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Extremen gelegen haben
dürfte; allerdings neigte er dazu, doch eher Ole als Jojo zu glauben, trotz der genüsslichen
Ausschmückungen, die der geborene Schauspieler seiner Geschichte hatte angedeihen lassen (und
die mit jeder Wiederholung mehr wurden). Anscheinend hatte sich die Trainerin kurz nach dem
Treffer sogar dazu entschieden, die Stunde zehn Minuten früher zu beenden, um sicherzugehen,
dass mit Jojo alles in Ordnung war. Dass sie dabei auch noch einen Kühlbeutel aus dem
Nebenzimmer geholt hatte, bestritt Jojo zwar vehement; aber in jedem Fall klang das alles nicht so,
als hätte er „nur mal kurz in die Knie gehen“ müssen...
*
Zufällig musste auch Jojo gerade an den Moment denken, in dem er ziemlich unsanft in die weniger
angenehmen Seiten der Pubertät „eingeweiht“ wurde; na gut: nicht ganz zufällig, immerhin dröhnte
das Glockenspiel zwischen den Beinen des drahtigen Jungen gerade mindestens genauso laut nach
wie das von seinem Kumpel Paul. Aber davon abgesehen befanden sich die beiden Jungen gerade in
sehr unterschiedlichen Stimmungslagen. Hätte sich die Szene in einem Comic abgespielt, dann
könnte der Leser über Pauls Kopf wohl nichts anderes als eine dicke, schwarze Wolke sehen,
vielleicht noch mit ein oder zwei zuckenden Blitzen verziert.
Jojo dagegen machte rein äußerlich zwar keine bessere Figur als Paul: Auch er kauerte ein paar
Meter weiter neben seiner eigenen Sporttasche und musste sich beherrschen, nicht laut
aufzuseufzen, so froh war er, dass er endlich eine Stellung gefunden hatte, in der das höllische
Pochen zwischen seinen sportlichen Beinen mit jeder Sekunde erträglicher wurde. Aber Comic-Jojo's Wolke der Frustration über die absurde Kette von Ereignissen, die ihn in diese Situation
gebracht hatte, wäre zu diesem Zeitpunkt schon fast komplett vom Wind einer enormen
Erleichterung verweht gewesen, und der aufmerksame Leser hätte vielleicht sogar die zarte
Andeutung eines beginnenden Regenbogens erspähen können.
Denn wenigstens hatte es niemand mitbekommen – oder zumindest niemand, der quatschen würde.
Instinktiv warf Jojo einen schnellen Blick aufs Nebenfeld. Das verwaiste Netz war ziemlich sicher
der schönste Anblick, den der Tag ihm bisher beschert hatte – na gut, vielleicht abgesehen von den
vier hübschen Mädels, an die inzwischen nur noch die halb-verwischten Abdrücke erinnerten, die
ihre Sportschuhe im roten Sand hinterlassen hatten... Aber nach dem, was gerade eben passiert war,
waren ihm diese Abdrücke zehnmal lieber als das, was sie hinterlassen hatte!
Anders als Paul hatte sich Jojo nie den Kopf darüber zerbrochen, wie lange er nach seinem „Unfall“
beim Selbstverteidigungskurs genau auf dem Boden verbracht hatte. Übrigens nicht, weil er es
genauer gewusst hätte als sein Kumpel – tatsächlich hatte er keinen blassen Schimmer, wie viele
Minuten vergangen waren, bis die schlimmsten Schmerzen irgendwann abzuflauen begannen und er
wenigstens wieder auf die Knie gehen konnte. Alles, was er wusste, war, dass so ziemlich im selben
Moment die Trainerin aus der Tür zu ihrer Umkleide gerauscht kam, eine eisblaue Kühlpackung in
jeder Hand. Sie hatte ihm sogar angeboten, ihn zu untersuchen, aber Jojo hatte fast reflexartig
abgelehnt. Wenn sein Unterbewusstsein ein Aktenschrank war, dann war die Vorstellung, vor dieser
Frau die Hosen runterzulassen und dann noch siebenmal bei ihrem Kurs aufzuschlagen, unter A wie
Albtraum abgelegt...
Davon abgesehen: Wenn Jojo ehrlich zu sich war, waren die Schmerzen für ihn nicht derselbe
Schock gewesen, wie das bei vielen anderen Jungen der Fall zu sein schien. Da er mit seinen 13
Jahren wahrscheinlich schon mehr Sportarten durchprobiert hatte als die meisten Erwachsenen,
hatte er auch entsprechende Erfahrungen mit Verletzungen gemacht. So konnte er sich noch
ziemlich gut daran erinnern, wie schmerzhaft es gewesen war, als er sich beim Hallenklettern mit
einem Ruck den Arm gezerrt hatte – was, wohlgemerkt, noch das kleinere Übel gewesen war: Die
Alternative hätte darin bestanden, herauszufinden, wie sich ein Sturz aus drei Metern Höhe auf
Beton angefühlt hätte. Jojo hatte nämlich mit Pauls Bruder Pascal gewettet, dass er sich trauen
würde, die blauen Steine an der Regenbogenwand ohne Schutz und Seil nach oben zu klettern,
insgesamt etwa fünf Meter. Natürlich war er prompt nach drei Metern abgerutscht und hatte es
gerade noch nach unten geschafft, mit einem rechten Arm, der brannte wie Feuer. Als weitere
Nebenwirkung war er der jetzt einzige Dreizehnjährige, den er kannte, der schon mit elf Jahren
lebenslanges Hausverbot in einer Kletterhalle hatte...
Beim Skateboarden hatte er sich ein ganzes Poesiealbum an Schürfwunden, blauen Flecken und
Prellungen zugelegt, und was er im Juniortrainingscamp des örtlichen Footballclubs erlebt hatte, das
hätte bei Eltern, die weniger entspannt waren als seine, wahrscheinlich zu einem Besuch beim
Anwalt geführt.
Sein erster Tritt in die Hoden war für Jojo deshalb zunächst eigentlich nicht viel mehr als eine
schmerzhafte Erfahrung unter vielen gewesen. Natürlich war auch er etwas beunruhigt davon
gewesen, wie relativ wenig Kraft das jüngere Mädchen einsetzen musste, um ihn zu Boden zu
schicken; aber andererseits, hatte er sich das unangenehme Erlebnis damals zurechtgeredet, war er
ja auch überrascht worden. In einem richtigen Kampf, da war er sich sicher, würde ihm das nie
passieren, und sicher gab es auch Techniken, um sich vor Attacken auf diese Region zu schützen.
Nein – das eigentliche Ereignis hatte er wahrscheinlich zwei Tage danach schon fast wieder
vergessen. Was ihn dagegen bis heute beschäftigte, war das, was danach passiert war...
Die erste Kostprobe bekam er gleich am Montag, noch bevor die Schule überhaupt begonnen hatte.
Wie immer traf er sich mit Kai und Alex an der Bushaltestelle, von wo aus die Jungen jeden Tag mit
ihren Rädern in die Schule fuhren. Schon aus der Ferne fiel ihm das hämische Grinsen auf, das die
beiden einander zuwarfen, als sie ihn bemerkten. Nichtsahnend hielt er auf die beiden zu, fest
überzeugt, dass sie einander wahrscheinlich gerade einen unanständigen Witz erzählt hatten, den sie
sicher gleich mit ihm teilen würden.
Kai saß bereits halb auf seinem Fahrrad. Noch bevor Jojo den Mund aufmachen konnte, um die
beiden zu begrüßen, rief er ihm schon entgegen: „Hey Jojo! Ich hab gehört, du trainierst jetzt bei
Balls Lee!“
Jojo blieb irritiert stehen und wusste im ersten Moment gar nicht, was sein Kumpel ihm damit sagen
wollte; noch bevor er sich irgendeine Antwort zurechtlegen konnte, schwang sich auch Alex aufs
Rad und legte höhnisch nach: „Vielleicht solltest du dir statt 'nem schwarzen Gürtel erst mal 'nen
weißen Eierbecher zulegen!“
Grölend fuhren die Jungs davon; Jojo, normalerweise immer der erste in ihrer kleinen Kolonne, war
so perplex, dass er erst mit ziemlichem Abstand zu Kai und Alex an der Schule ankam. Auf dem
Weg dorthin machte es aber zumindest irgendwann 'Klick' bei ihm, und er kapierte, dass sich die
beiden Jungen, die eigentlich seine Kumpel waren, gerade über seinen Fauxpas in der
Kampfkunstschule lustig gemacht hatten!
Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, und das kam nicht vom Pedale-treten. Verdammt!
Woher wussten die beiden überhaupt davon? Natürlich brauchte er nicht lange, um sich die Frage
selbst zu beantworten: Ole! Er kannte seinen Kumpel und wusste, dass der keine Gelegenheit
ausließ, sich vor anderen zu produzieren.
Na gut – und wenn schon! Kai, Alex, Ole und er waren damals ein richtiges Kleeblatt, und einer
von ihnen machte fast immer irgendwas mit einem der drei anderen. Wenn seine drei besten
Kumpel sich den Schulmontag damit versüßen wollten, ein paar Witze über ihn zu reißen, dann
konnte er damit leben.
Kaum war er bei der Schule angekommen und von seinem Rad gesprungen, bekam er einen
Geschmack davon, was ihn wirklich erwarten sollte. Als er die Stufen zum Eingang hinaufstieg,
sprang Pit sofort auf und sagte: „Jojo! Brauchst dir keine Sorgen machen: Hab den ganzen
Sechstklässlerinnen schon gesagt, dass sie heut' mal daheimbleiben sollen!“ Diesmal brachte er
immerhin den Mund auf, bevor zwei von Pits Kumpel, die er bloß vom Sehen kannte, auch schon in
wieherndes Gelächter ausbrachen und dem hochgeschossenen blonden Jungen anerkennend auf den
Rücken klopften.
„Ha-ha, sehr witzig!“ schaffte er noch, den Jungs hinterherzurufen, bevor er hinter ihnen in die
Schule stapfte. Jojo spürte, wie sich langsam ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengrube
ausbreitete: Pit war in der Parallelklasse – woher zum Teufel wussten er und seine Kumpel von
seinem „Trainingsunfall“?
Viel später sollte Jojo dann herausfinden, dass einige der Jungs sogar eine eigene WhatsApp-Gruppe eingerichtet hatten – für alle außer ihm, versteht sich.
Ob Luisas Fuß ihn also nun zwei Minuten oder zwei Stunden außer Gefecht gesetzt hatte: Zur
Zielscheibe für den Spott der halben Schule sollte er ihn jedenfalls ganze zwei Wochen lang machen
– länger als Jojo das jemals bei einem anderen Jungen erlebt hatte. Klar musste man, wenn man
zum Beispiel beim Raufen das Knie zwischen die Beine bekommen hatte, mit ein paar spöttischen
Kommentaren rechnen, aber meistens nur so lange, wie man nicht mehr tun konnte als sich unter
diversen Schmerzlauten auf dem Boden zu winden und die Hände auf den Schritt zu pressen. War
der Treffer besonders spektakulär gewesen, konnte es sich auch einmal zu einem Running Gag
entwickeln, den betroffenen Jungen für den restlichen Tag damit aufzuziehen.
Weil es ihn so unvorbereitet getroffen hatte, musste Jojo erst nach und nach lernen, die diversen
Pfeile, die besonders in den ersten Tagen scheinbar aus allen Richtungen auf ihn abgeschossen
wurden, mit lässigen Bemerkungen aus der Luft zu fischen und an den Absender zurückzuschicken.
Das gelang ihm auch immer besser, und irgendwann hatte sich der Witz dann endlich totgelaufen.
Jojo nahm einen tiefen Zug aus seiner schwarz-gelben Sportflasche und schielte zu Paul hinüber,
der ebenfalls gerade sein Plastikgefäß aufschraubte. Als er spürte, wie die eisige Apfelschorle
allmählich den Brand hinter seiner Stirn und seiner Brust löschte, musste er daran denken, dass Paul
damals für ihn ungefähr dasselbe getan hatte.
Denn gerade am Anfang hatte Jojo nicht wirklich gewusst, wie er damit umgehen sollte, dass sich
scheinbar alle plötzlich auf ihn eingeschossen hatten. Jojo hatte vorher immer zu den beliebteren
Jungen gehört, und der Genuss, mit dem die anderen dieses peinliche Erlebnis jetzt breittraten,
verunsicherte ihn ziemlich – und außerdem machte es ihn wütend. Irgendwie fühlte er sich verraten,
vor allem von den Jungen, die er eigentlich für seine Freunde gehalten hatte.
Mit diesen düsteren Gedanken im Kopf hatte er sich dann am zweiten Tag neben Paul gesetzt, in
Religion, das sie zusammen hatten. Als Jojo sah, wie der sportliche Junge ansetzte, etwas zu sagen,
herrschte er ihn auch schon an: „Na los, spuck's aus! Hab ja heut' erst zwanzig blöde Kommentare
zu hören gekriegt..."
Aber Paul hatte bloß die Schultern gezuckt und mit einem lässigen Grinsen gemeint: „Nee, dann
verbeiß ich's mir lieber. Ich mein, wenn du jetzt erst 19 blöde Kommentare gehört hättest, hätt' ich
schon was sagen müssen, aber zwanzig reichen erst mal.“
Gegen seinen Willen hatte Jojo ebenfalls grinsen müssen. Dann knallte er sein Buch und seine Hefte
auf die Bank und stieß geräuschvoll die Luft aus. „Oh Mann hey...die führen sich auf, als wär' ich
der erste Mensch, der je was in die Eier kassiert hat!“
Paul hatte wieder nur mit den Achseln gezuckt und lakonisch gemeint: „Naja, lang genug hat's ja
gedauert...“
Jojo hatte die Stirn gerunzelt und seinen Kumpel im ersten Moment bloß verständnislos angeblickt.
Aber es dauerte nicht lange, bis ihm aufging, dass Paul recht hatte: Was diese weniger angenehme
„Nebenwirkung“ der Pubertät betraf, war er wirklich ein ziemlicher Spätzünder gewesen!
Damals in der sechsten Klasse hatten die Frühreifen unter ihnen plötzlich angefangen, sich auf dem
Gang gegenseitig mit dem Handrücken zwischen die Beine zu schlagen, am besten im Vorbeigehen,
wenn das Opfer es gerade am wenigsten erwartete; die Mutigsten machten das sogar im Unterricht,
mit blitzschnellen Schlägen mit der Handkante von oben oder sogar einem schnellen Faustschlag in
die Hoden unter der Bank. Der größte Triumph war, wenn es der Getroffene nicht schaffte, einen
Schmerzlaut zu unterdrücken, und deshalb vom Lehrer anstatt dem eigentlichen Übeltäter ermahnt
wurde.
In dieser Hinsicht ging die legendärste Aktion von allen auf das Konto von Jojo's Kumpel Hannes:
Der hatte in einer stinklangweiligen Deutschstunde einmal bemerkt, dass sein Tischhintermann Leo
gerade extrem am Kippeln war und dabei unbedacht die Beine gespreizt hatte. Geistesgegenwärtig hatte er daraufhin die Schleuder aus seinem
Rucksack genommen, die er sich ein paar Tage vorher aus seinem Zirkel und einer breiten
Gummischlaufe gebastelt hatte, und auf seine Gelegenheit gewartet. Sie kam, als die Lehrerin
gerade etwas an die Tafel schrieb, und Leo damit beschäftigt war, halbwegs „unauffällig“ nach hinten zu einem der
Mädchen zu schauen. Hannes griff sich schnell eine der Glasmurmeln, die er in seinem Mäppchen hatte und legte sie in die Schlaufe seiner Schleuder; dann zog er das Gummiseil so weit zurück wie er
konnte, zielte und feuerte die kleine, harte Murmel punktgenau in die deutlich sichtbare und scheinbar durch die Blicke zu den Mädchen gerade größer werdende Beule in Leos
schwarzer Radlerhose. Die Wirkung war filmreif: Leo riss die Augen auf und stieß einen halblauten
Schrei aus; gleichzeitig griff er instinktiv mit einer Hand zwischen seine Beine, verlor das
Gleichgewicht und polterte mitsamt seinem Stuhl zu Boden. Hannes hatte sich da schon längst
wieder nach vorne gedreht und die Schleuder unter der Bank verschwinden lassen. Alles, was die
Lehrerin sah, als sie einen Moment später herumfuhr, war Leo, wie er mit schmerzverzogenem Gesicht am
Boden lag, während der Rest der Klasse in Gelächter ausbrach. Am Ende durfte Leo nach einer
massiven Standpauke auch noch einen vierseitigen Aufsatz schreiben: „Warum es keine gute Idee
ist, im Unterricht zu kippeln.“
Die Ironie war, dass Jojo geraume Zeit wirklich nicht verstanden hatte, wieso einige der Jungen
plötzlich so extrem reagierten, wenn sie einen Treffer zwischen die Beine kassierten; eine Zeit lang
hatte er sogar geglaubt, dieses Verhalten sei irgendein Witz, den er bloß nicht kapierte. Erst als er
ein paar Monate später selbst in die Pubertät kam, wurde ihm endlich klar, dass die Anderen bloß
früher dran gewesen waren als er. Aber Paul hatte recht: Obwohl Jojo alles Andere als risikoscheu
war, wenn es um Sport ging, hatte er diese spezielle Art von „Unfall“ sehr viel länger vermeiden
können als die meisten Jungen, die er kannte.
Inzwischen hatten allerdings so gut wie alle Jungen in ihrer Klasse – und die meisten anderen in
seinem Alter – nachgezogen und ein ausgeprägtes Bewusstsein für diese „Schwachstelle“
entwickelt: Selbst Jungen, die noch nie persönlich erlebt hatten, wie schmerzhaft ein Treffer
zwischen die Beine sein konnte, hatten es oft genug gesehen, um sofort nervös zu werden, wenn
jemand eine Bewegung in Richtung ihres Allerheiligsten machte, oder sie auch nur andeutete; selbst
Jojo hatte sich zuvor schon bei diesem Reflex ertappt. Denn dass es verdammt wehtat, dort
getroffen zu werden, war eine Sache; fast schlimmer war noch, dass die Folgen für das Opfer auch
immer extrem peinlich waren. Selbst bei einem leichten Treffer musste man sich schließlich fast
immer mit schmerzverzerrtem Gesicht tief nach vorne beugen und ein paar Minuten mit diversen
halb unterdrückten Schmerzlauten so dastehen.
Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb es unter den Jungen eigentlich nur eine
ungeschriebene Regel gab, von der die Begeisterung, mit der sie diese Schwachstelle ausnutzten,
etwas in Zaum gehalten wurde; und das war die unausgesprochene Abmachung, es nicht direkt vor
den Mädchen zu machen. Jojo war sich ziemlich sicher, dass es dieses Gentleman's Agreement ganz
am Anfang noch nicht gegeben hatte. Aber als die Jungen allmählich realisierten, dass sie in dieser
Hinsicht alle im selben Boot saßen und nicht bloß ein paar von ihnen, waren sie wohl instinktiv zu
der Erkenntnis gelangt, dass es besser war, wenn die Mädels nicht zu genau darüber Bescheid
wussten, wie empfindlich die auf den ersten Blick so coolen Jungs zwischen den Beinen plötzlich
geworden waren – und dass ein einziger gut gezielter Tritt an diese Stelle oder ein verirrter Fußball
inzwischen ausreichte, damit selbst der taffste Junge nichts mehr machen konnte als sich mit
wahnsinnigen Schmerzen am Boden zu wälzen und sein Publikum mit einem Konzert aus
amüsanten Lauten zu unterhalten...
Denn darin waren sie sich alle einig: Das Peinlichste, was schiefgehen konnte, war, dass einem so
etwas vor einem Mädchen passierte! Na gut – das Zweitpeinlichste. Das Allerschlimmste war
natürlich, dass man nicht vor, sondern von einem Mädel einen Treffer in die Hoden kassierte – aber
das war, soweit Jojo wusste, bis eben jetzt noch nie einem von ihnen passiert.
Selbst als er sich jetzt, ein Vierteljahr später, an den Moment erinnerte, in dem der Groschen endlich
bei ihm gefallen war, wurde ihm noch kurz heiß im Gesicht, so peinlich war es ihm, dass er es nicht
eher geschnallt hatte.
Jojo's Kiefermuskeln hatten sich damals kurz verspannt, als er einen Moment lang die Zähne
zusammenbiss, um die Wut auf seine eigene Blödheit irgendwie ins Körperliche zu übersetzen.
Natürlich – ausgerechnet er musste das Pech haben, seinen ersten Tritt in die Eier von einem
Mädchen zu bekommen! Aber während er sich jetzt tagelang von seinen Kumpeln deswegen
anfeixen lassen durfte, hatte sie das Ganze wahrscheinlich schon längst vergessen...
*
Luisa stand vor dem hohen Spiegel, der eine ganze Tür ihres Schrankes bedeckte. Rhythmisch
ballte und spreizte sie ihre Finger, während sie sich noch einmal die Bewegungen in Erinnerung
rief, die sie gleich vollführen mussten. Dann griff sie in ihre schwarze Mähne und teilte sie auf der
Höhe ihres Nackens geschickt in drei Stränge. Bis vor etwa einem Jahr hatte sie ihr von Natur aus
sehr glattes Haar nie länger als bis zu den Schultern getragen; aber irgendwann hatte sie
beschlossen, es wachsen zu lassen, und inzwischen reichte es ihr fast bis zum unteren Rücken.
Langsam und konzentriert begann sie, die Stränge miteinander zu verweben. Sie spürte einen
Anflug von Stolz, als die ersten paar Knoten des Zopfes vor ihren Augen Gestalt annahmen, und
erlaubte sich ein zufriedenes Lächeln.
Früher hatte ihr manchmal ihre Mutter die Haare geflochten oder, häufiger, eine Freundin. Erst vor
ein paar Wochen hatte sie den Ehrgeiz entwickelt, es selbst zu machen. Leicht gefallen war ihr das
nicht gerade. Zwar hatte sie lange, schlanke Finger, aber Häkeln oder Nähen hatten ihr nie Spaß
gemacht, und sie vermutete, dass ihr deshalb zu Beginn ein wenig das Fingerspitzengefühl gefehlt
hatte – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie oft sie am
Anfang die hässlichen Haarknäuel aufschütteln musste, die ungefähr so sehr nach einem Zopf
aussahen wie ein Bündel Lumpen nach einem Kleid. Aber sie war hartnäckig geblieben, und mit
jedem Mal war es ein bisschen besser geworden – bis dann vor einer Woche zum ersten Mal etwas
über ihren Rücken gebaumelt hatte, das nicht viel schlechter war als das, was ihre beste Freundin
Maresa auch hinbekam.
Diese neue Unabhängigkeit hatte ihr auf Anhieb gefallen – obwohl sie, wenn sie ehrlich war, so oft
gar nicht von ihr Gebrauch machen musste. Normalerweise bändigte sie ihr Haar einfach zu einem
superlangen Pferdeschwanz, den sie mit drei, vier Haargummis oder Spangen in gleich große
Abschnitte teilte. Aber von „normal“ war das, was sie heute noch vorhatte, ziemlich weit entfernt,
und deshalb war für sie von Anfang an klar gewesen, dass sie sich dafür einen Zopf flechten wollte
– und zwar den besten, der ihr bisher gelungen war!
Sie spürte, wie ihr Herz etwas schneller zu schlagen begann, als sie an das Treffen mit Isabell
dachte. „Wenn du bei uns mitmachen und nicht bloß mitlaufen willst, dann musst du uns beweisen,
was du drauf hast!“, hatte die taffe Anführerin der 48'er zu ihr gesagt. „Wenn das okay für dich ist,
dann kommst du am Freitag um Vier zu uns; ansonsten kannst du dich beim Kirchenchor anmelden,
vielleicht können die dich brauchen.“ Wie meistens wurden Isabells Worte auch damals durch das
hämische Kichern von Mona untermalt, ihrer gefürchteten Nummer 2; aber Luisa hatte es kaum
bemerkt. Isabells Angebot war für sie so überraschend gekommen, dass sie nur einmal knapp
nickte, noch bevor ihr Verstand ganz verarbeitet hatte, was die unscheinbare Geste wirklich
bedeutete.
Sie war drauf und dran, bei einer Mädchenbande einzusteigen!
Und nicht, weil sie das irgendwie geplant hatte. Sie war eigentlich noch kurioser in das Ganze
hineingestolpert, als die Helden in den Abenteuergeschichten, die sie so gerne las. Eigentlich hatte
sie damals bloß eine Abkürzung gesucht.
Die Kette ihrer Gedanken riss, als einer ihrer Nägel gegen einen Widerstand stieß, der da eigentlich
nicht sein sollte. Besorgt runzelte sie die Stirn und überprüfte ihr Flechtwerk im Spiegel.
Inzwischen war der Zopf ungefähr zur Hälfte fertig – und irgendwie war das immer der Moment, an
dem ihre Finger sich besonders gerne verhedderten...
Erleichtert stellte sie fest, dass sie den Fehlgriff noch vor der Ausführung bemerkt hatte. Schnell
korrigierte sie ihre Haltung und machte weiter damit, die drei Haarstränge sauber
übereinanderzulegen. Als wieder ein paar Stockwerke fertig waren, vergewisserte sich Luisa durch
einen langen, kritischen Blick, dass die neuen nicht schlechter aussahen als die vorigen.
Wie sie die Knoten so betrachtete, kam ihr plötzlich der Gedanke in den Sinn, dass ihr Leben sich
seit ein paar Monaten ungefähr so anfühlte wie der Zopf zwischen ihren Fingern. Plötzlich
überkreuzten und überschnitten sich alle möglichen unerwarteten Ereignisse; sie begann Dinge zu
entdecken, von denen sie früher nicht mal gewusst hatte, dass man überhaupt nach ihnen suchen
konnte – und alles zusammen sorgte dafür, dass ihr Leben plötzlich spannender war als je zuvor!
Vor allem im Vergleich zu der Zeit vor dem Umzug: Wenn sie daran zurückdachte, wie es damals
gewesen war, kam ihr nicht das Bild eines geheimnisvoll verschlungenen Zopfes in den Sinn,
sondern das eines langen, grauen Korridors, in dem es links und rechts keine Türen und keine
Fenster gab – und das, obwohl sie erst vier Monate hier war!
Reflexartig musste sie an das Erlebnis vor gut drei Monaten denken, mit dem alles angefangen
hatte. Nachdem sie sich an ihrer neuen Schule ein bisschen umgehört hatte, hatte sie durch einen der
Sportlehrer von einem Dojo erfahren, an dem seiner Auskunft nach besonders Kung-Fu und
Kickboxen unterrichtet wurden. Eine Woche später hatten ihre Eltern sie dann endlich zu einem
Schnuppertraining angemeldet. Ihre erste Stunde war allerdings eine ziemliche Enttäuschung für sie
gewesen: Die Lehrerin war ihr nicht besonders sympathisch und steckte sie einfach in einen
Anfängerkurs, nur weil sie erst elf war; dass sie vorher bereits Erfahrungen mit Kampfsport
gesammelt hatte, schien die dumme Kuh gar nicht gehört zu haben!
Ironischerweise war das sogar einer der Gründe gewesen, aus denen Luisa erst einmal gar nicht so
begeistert war, als ihre Eltern ihr vor etwa einem Jahr eröffneten, dass ihr Vater eine neue Stelle
gefunden hatte und sie deshalb umziehen würden. Dass sie die Freunde an ihrer alten Schule
verlieren würde, war die eine Sache; aber fast noch schlimmer war für sie, dass sie Maestra Yasmin
nie mehr wiedersehen würde.
Anders als die übrigen Teilnehmer des Kurses war Luisa nämlich keine blutige Anfängerin, die zum
ersten Mal ein Dojo von innen sah. Tatsächlich hatte das junge Mädchen bereits drei Jahre lang
Romanescu trainiert, eine Mischung aus Kickboxen und Ringen, die aus Rumänien stammte und
dort besonders für Mädchen und Frauen entwickelt worden war. Leider war diese osteuropäische
Kampfkunst im Westen immer noch ziemlich exotisch; Luisa war auch nur durch puren Zufall
darauf gestoßen, als das einzige Dojo der Stadt, das diese Kampfkunst unterrichtete, in ihrem
Turnverein eine Vorführung gab. Damals war sie neun gewesen – und sofort fasziniert von dem,
was sie da sah. Die Bewegungen waren schnell und elegant, aber kraftvoll; obwohl es eine
Kampfkunst war, schien Romanescu etwas Akrobatisches zu haben, das ihr auf Anhieb gefiel. Also
nahm sie sich einen der Handzettel mit, die am Ende verteilt wurden, und lag ihren Eltern ein paar
Tage lang damit in den Ohren. Die waren zwar anfangs skeptisch gewesen, weil sie fanden, ihre
Tochter sei noch zu jung, um einen Kampfsport zu lernen. Aber schließlich hatten sie doch
nachgegeben, vielleicht in der stillen Hoffnung, dass es ihr nach ein paar Stunden von selber
langweilig werden würde.
Daraus wurde jedoch nichts: Das Training gefiel Luisa auf Anhieb so gut, dass sie nach ein paar
Wochen sogar ihren Turnunterricht dafür aufgab. Die anspruchsvollen Bewegungen der
Kampfkunst zu lernen war genauso anstrengend wie ihre Turnstunden, aber viel spannender, und
jede Lektion verging plötzlich wie im Flug.
Das hatte allerdings, wie Luisa spätestens nach ihrer Erfahrung in der anderen Kampfkunstschule
klar geworden war, zu einem großen Teil an Yasmin gelegen, der Meisterin des Dojos – oder
Maestra, wie man im Romanescu sagte. Da die Gruppe eher überschaubar war, nahm Yasmin sich
für jede einzelne Schülerin relativ viel Zeit, um sicherzugehen, dass die Mädchen keine Fehler
verschleppten, die ihnen bei den komplizierteren Techniken dann Probleme bereiten würden. Davon
abgesehen war die Maestra eine hervorragende Beobachterin, die mit einem einzigen Blick selbst
kleinste Fehler in Haltung oder Ausführung bemerken und sie mit knappen, präzisen Anweisungen
korrigieren konnte. Dadurch machten die Mädchen recht schnell Fortschritte und waren
entsprechend motiviert.
Die Schnupperstunde vor drei Monaten war in dieser Hinsicht das komplette Kontrastprogramm
gewesen: Der Kurs war ziemlich groß, und Luisa hatte von Anfang an den Eindruck, dass die
Lehrerin sich nur für die Teilnehmer interessierte, die schon bei ihr angemeldet waren. Das hatte sie
zwar geärgert, aber dafür ihren Respekt vor ihrer ehemaligen Meisterin noch einmal steigen lassen.
Was sie allerdings umso spannender gefunden hatte, war, dass sie zum ersten Mal die Gelegenheit
hatte, mit einem Jungen zu trainieren. Sie wusste zwar, dass Romanescu speziell für Mädchen
entwickelt worden war, aber sie war sich nie ganz sicher gewesen, ob Jungs sich deswegen einfach
nie dafür interessiert hatten, die seltene Kampfkunst zu lernen, oder ob Yasmin aus Prinzip keine
aufgenommen hatte. Jedenfalls waren ihre Übungspartner die ganzen drei Jahre über immer nur
Mädchen gewesen; Unterschiede in Größe und Kraft simulierte die Maestra dadurch, dass sie
regelmäßig ältere Mädels mit jüngeren trainieren ließ. Die Erfahrungen, die sie dabei machte, hatten
im Laufe der Zeit allerdings gewisse Zweifel in Luisa aufkeimen lassen. Zwar betonte Yasmin
immer wieder, dass sie sich keinesfalls von einem stärkeren Gegner einschüchtern lassen durften;
und gerade weil Romanescu immer davon ausging, dass die Ausübenden ihrem Gegner körperlich
eher unter- als überlegen sein würden, konzentrierte sich die Kampfkunst sehr stark auf Griffe und
Techniken, welche die Kraft des Angreifers ausnutzen und gegen ihn selbst richten sollten.
Trotzdem hatte Luisa sich im Laufe der Zeit immer ernsthafter gefragt, ob alles das, was Yasmin
ihnen beibrachte, auch dann noch funktionieren würde, wenn sie es gegen einen Jungen einsetzen
mussten, der womöglich drei, vier Jahre älter war als sie. Der Grund für ihre Zweifel war kein
mangelndes Selbstvertrauen: Im Romanescu gehörte sie sehr schnell zu den Besten in ihrer
Altersklasse und durch ihr Turntraining war sie den meisten ihrer Altersgenossinnen körperlich eher
eine Spur über- als unterlegen gewesen. Aber kaum musste sie gegen eine Trainingspartnerin
antreten, die nur ein oder zwei Jahre älter war, verpuffte dieser Effekt augenblicklich, und Luisa
fand es dann regelmäßig sehr schwierig, sich beim Sparring durchzusetzen. Selbst wenn sie ihr
Bestes gab, musste sie sich bei drei Kämpfen meistens zweimal geschlagen geben. Und dann waren
ihre Gegnerinnen aber „nur“ Mädchen gewesen! Luisa wusste aus eigener Beobachtung, dass
Jungen, wenn sie in ein bestimmtes Alter kamen, plötzlich sehr schnell viele Muskeln entwickelten
und oft aggressiver auftraten, als das unter ihren Geschlechtsgenossinnen üblich war. Sie traute sich
deshalb durchaus zu, gegen einen Jungen zu gewinnen, der in ihrem Alter war; aber dass ihr das
auch bei einem zwei oder sogar drei Jahre älteren Angreifer gelingen sollte, konnte sie sich nicht
wirklich vorstellen.
Umso aufregender hatte sie es gefunden, als sie in der dritten Stunde – die letzte, die sie noch
mitmachen durfte, bevor sie sich entscheiden musste, ob sie Mitglied werden wollte oder nicht – die
Partnerübungen mit einem Jungen machen sollte. Gleichzeitig hatte sein Anblick ihr auf Anhieb
einen gewissen Respekt eingeflößt: Seiner Größe nach zu urteilen war er mindestens zwei Jahre
älter als sie, und unter der engen, khakifarbenen Radlerhose sowie dem gleichfarbigen Trikot –
genau wie sie hatte auch er vom Dojo noch keinen der offiziellen Trainingsanzüge bekommen –
zeichneten sich für sein Alter schon recht definierte Muskelstränge ab. Seltsamerweise hätte Luisa
aber nicht sagen können, welchen Sport er hauptsächlich machte: Einerseits war er groß und
schlank wie ein Basketballspieler, aber andererseits hatte er leichte Ansätze zu einem
Schwimmerkreuz, und gleichzeitig war er so flink auf den Beinen wie jemand, der viel Tischtennis
spielte.
Jedenfalls war sie fast etwas erleichtert gewesen, als die Lehrerin klar machte, dass sie die Stunde
mit einer reinen Technikübung beschließen wollte. Luisa hatte zwar kein besonderes Interesse
daran, an diesem Dojo weiterzumachen; aber sich damit zu verabschieden, dass ein Junge beim
Sparring mit ihr den Boden aufwischte, darauf hatte sie noch weniger Lust!
Inzwischen waren ihre Finger am unteren Ende des Zopfes angekommen; noch zwei, drei Knoten,
und sie war fertig. Sie schloss kurz die Augen und atmete einmal tief durch, bevor sie versuchte,
sich wieder ganz auf ihr Flechtwerk zu konzentrieren. Das war allerdings leichter gesagt als getan,
denn ihre Gedanken wanderten ständig zu dem zurück, was damals entgegen ihrer ursprünglichen
Befürchtungen tatsächlich passiert war – und wie immer, wenn sie das tat, spürte sie dieses seltsame
Kribbeln, das sich dabei ganz kurz in ihrem Körper ausbreitete...
Die Lehrerin hatte es nicht einmal fertig gebracht, ihnen zu sagen, welche Techniken sie denn genau
ausführen sollten und in welcher Reihenfolge. Yasmin hatte ihnen das immer ganz genau gesagt,
damit beide Übungspartner sich darauf einrichten konnten und sie selbst wusste, was sie
kontrollieren würde. Hier hatte es dagegen bloß geheißen: „Macht jetzt nochmal, was ihr gelernt
habt!“ Fast aus Trotz hatte Luisa dann eine typische Sequenz von fünf verschiedenen Tritten
ausgeführt, die in ihrem alten Dojo Standard gewesen war – das war ja schließlich, „was sie gelernt
hatte“, und wenn die Kuh sich nicht genauer ausdrücken konnte, war das eigentlich nicht ihr
Problem...
Sie hatte ihre Entscheidung dann jedoch fast sofort wieder bereut, als der enge Sicheltritt, den sie
als dritte Technik ausgeführt hatte, den Jungen komplett überraschte und ihren nackten Spann kräftig gegen
seinen Oberschenkel klatschen ließ. Bei einem Mädchen – zumindest einem gleichaltrigen – hätte
sie einen Moment später wahrscheinlich einen hellen Schmerzenslaut gehört; das halb gegrunzte
„uh“ des Jungen dagegen wirkte eigentlich bloß überrascht. Angesichts der strammen Muskeln, die
sie einen kurzen Moment lang an ihrem Spann gespürt hatte, wunderte sie das nicht unbedingt,
sondern bestätigte eher ihre Vorurteile. Aus der – Macht der Gewohnheit – hatte sie direkt die
gespiegelte Version des Trittes bereits eingeleitet, kaum dass die erste Bewegung abgeschlossen
war, die ebenfalls klatschend gegen den anderen Oberschenkel des Jungen klatschte und ihn aus dem Gleichgewicht brachte, so dass er seinen Stand korrigieren musste, in dem er die Beine weiter auseinander stellte. Der als gleich eingeleitete dritte Sicheltritt wieder gegen den ersten Oberschenkel gelang ihr dann aber nicht mehr; zum Glück schaltete der Junge schnell und schaffte es diesmal, rechtzeitig das Polster vor
seinen Oberschenkel zu halten.
Trotzdem beschloss Luisa nun spontan, ihre Sequenz zu variieren: Eigentlich wären zum Abschluss ein
Fußfeger und ein halbmondförmiger Tritt gegen das Schlüsselbein dran gewesen, aber ein Gefühl
sagte ihr, dass das den Jungen überfordern würde. Statt dessen entschied sie sich, einmal kräftig
nach vorne zu treten und anschließend einen schnelleren Schnapptritt folgen zu lassen, bei dem man
zuerst das Knie so weit hochreißen musste wie möglich, bevor dann das Unterbein mit einer
peitschenden Bewegung nach vorne geschleudert wurde. Aus irgendeinem Grund hatte Yasmin auf
diese letzte Variante immer besonders großen Wert gelegt und sie die Mädchen bei fast jeder
Sequenz üben lassen. Da beide Tritte nach vorne gingen, war Luisa zuversichtlich, dem Jungen
weitere unangenehme Überraschungen dadurch ersparen zu können.
Zunächst hatte sie damit auch richtig gelegen: Sie telegraphierte ihre nächste Bewegung besonders
sorgfältig, und einen Moment später krachte ihr Fuß auch schon harmlos gegen das dicke Polster.
Dadurch bestätigt, machte sie bei der letzten Technik genau dasselbe: Sie riss das Knie nach oben,
während sie gleichzeitig die zu Fäusten geballten Hände bis zu den Hüften hinabstieß, nur um
hundertprozentig klar zu machen, was als nächstes passieren würde... und registrierte dann
vollkommen verblüfft, wie der Junge das Polster plötzlich ruckartig nach oben riss und dadurch
seine Hüftregion entblößte – einen Wimpernschlag nachdem sie die Folgebewegung begonnen
hatte! Noch bevor sie die Situation richtig realisiert hatte, spürte sie auch schon, wie ihr Fuß kurz in
etwas Weiches schlug, bevor er gleich darauf von einem deutlich härteren Widerstand gestoppt
wurde.
Reflexartig zog sie ihr Bein sofort wieder zurück und setzte zu einer scherzhaften Entschuldigung
an, fest überzeugt, dass der Junge seinen Fehler wohl genauso kurios finden würde wie sie. Aber die
Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie verdattert sah, wie der Junge fast augenblicklich vor ihr
zu Boden ging. Im ersten Moment glaubte sie noch, er wollte bloß einen Spaß machen und so tun,
als ob er „tödlich getroffen“ sei, um sie ein bisschen zu ärgern. Mit dem Anflug eines Grinsens auf
den Lippen kam sie deshalb etwas näher, nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Dann blickte
sie in sein Gesicht, und der schmerzerfüllte Ausdruck darin wischte den ironischen von ihrem
eigenen und ersetzte ihn durch blanke Verwirrung. Als er ein paar Momente später auch noch
begann, seltsame Geräusche von sich zu geben, wie Luisa sie noch nie zuvor gehört hatte, und sich
ruckartig von einer Seite zur anderen zu bewegen, wusste sie endgültig nicht mehr, was sie machen
sollte.
Die Entscheidung wurde ihr kurz darauf abgenommen, als die Lehrerin schnell auf sie beide zulief
und Luisa mehr oder weniger zur Seite schob; dann beugte sie sich tief über den Jungen und
begann, leise auf ihn einzureden. Was sie genau sagte, konnte Luisa nicht richtig verstehen, denn
schnell bildete sich eine kleine Traube von teils besorgten, teils neugierigen Zuschauern. Luisa
versuchte noch, wieder etwas näher an ihn heranzukommen, als die Lehrerin sich plötzlich
aufrichtete und erklärte, die Stunde sei für heute beendet und bis auf den Jungen sollten alle die
Halle verlassen. Sie hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, sie zu fragen, was mit ihm los sei, und
wenn sie ihr sympathischer gewesen wäre, hätte sie es wahrscheinlich getan; aber so hatte sie keine
Lust gehabt, sich wieder irgendeine unfreundliche Bemerkung anzuhören, und war stattdessen
ratlos in Richtung Umkleide getrottet.
Luisa hielt das Ende ihres fertig geflochtenen Zopfes in der linken Hand und erlaubte sich einen
langen, stolzen Blick in den Spiegel, bevor sie mit der rechten in der Dose mit den Haargummis zu
kramen begann. Sonst griff sie einfach blind zu, weil es ihr normalerweise egal war, welchen der
vielen bunten Kautschukringe sie zu greifen bekam und ob er Glitzer hatte oder nicht; aber heute
suchte sie gezielt nach einem schlichten, schwarzen Haargummi, der sogar schon ein bisschen
abgenutzt war. Als sie fertig war, warf sie ihren Zopf über die Schulter nach vorne und inspizierte
noch einmal das Gesamtbild.
Sie hatte schnell gemerkt, dass in Isabells Bande ganz andere Regeln galten, als sie es von der
Schule und ihren Freundinnen her gewohnt war; für zu mädchenhafte Kleidungsstücke und
Accessoires zum Beispiel hatten die taffen Diebinnen selten mehr als ein paar spöttische
Bemerkungen übrig. Besonders Mona wachte mit Argusaugen über die Einhaltung des
ungeschriebenen Dress Codes der Bande. Wie der aussah, hatte sich Luisa nach eigenen
Beobachtungen und einem frühen Zusammenstoß mit Isabells Zerberus relativ schnell
zusammengereimt: Schwarz und Weiß waren die Bandenfarben, bunte Sachen verpönt; auffällig
durfte nur der Schmuck sein, der aber aus Silber bestehen musste; Röcke galten als unpraktisch, und
wehe jemand wurde dabei erwischt, wie er irgendwo auf der Kleidung eine 64 hatte – der Name der
Jungenbande, mit der Isabells 48er seit Jahren verfeindet waren. Angeblich prüfte Mona manchmal
sogar nach, ob sich die Zahl irgendwo auf den Waschzetteln in den T-Shirts und Hosen der
Mädchen fand, aber Luisa war sich nicht ganz sicher, ob sie das wirklich glauben sollte.
Ihr Spiegelbild verriet jedenfalls, dass sie ihr Bestes gegeben hatte, sich anzupassen: Tief auf ihren
Hüften saß eine schwarze Baggy-Jeans mit einem einzelnen, weißen Streifen am Rand. Die Beine
der Hose waren an mehreren Stellen leicht eingerissen – eine nachträgliche „Verzierung“, weil ihr
aufgefallen war, dass Kleidung, die zu neu aussah, in der Bande nicht gern gesehen wurde. Darüber
trug sie einen weiß-schwarz gestreiften Jersey mit der Nummer 48 auf dem Rücken. Der Jersey war
geliehen, für die Hose hatte sie ihr Sparschwein geplündert und sie sich von einer älteren Freundin
besorgen lassen. Luisas Mutter hatte nämlich recht konservative Ansichten, was ihre Kleidung
betraf, und spätestens die Risse in einer nigelnagelneuen Jeans hätten zu der Sorte von Diskussion
geführt, auf die das schwarzhaarige Mädchen verzichten konnte. Damit ihre Mutter nichts merkte,
war sie dazu übergegangen, ihre Sachen selbst zu waschen; das war zwar mehr Arbeit, aber eben
auch sicherer.
Nach einem letzten zufriedenen Blick in den Spiegel schaute Luisa kurz auf ihr rechtes Handgelenk.
Überrascht runzelte sie die Stirn, als sie bemerkte, dass sie dort immer noch die Uhr trug, die sie zu
ihrem letzten Geburtstag bekommen hatte, die mit dem schmalen Band aus Roségold und den
Strasssteinchen auf dem Zifferblatt. Definitiv ein Stilbruch...
Ein Lächeln huschte über Luisas Gesicht, als sie das Geschenk, um das ihre Freundinnen an der
alten Schule sie beneidet hatten, auszog und statt dessen ein billiges schwarzes Plastikding mit
weißen Zeigern über ihr Handgelenk streifte. Eigentlich, dachte sie sich, würde die schöne Uhr
schon passen, immerhin hätte sie Isabell ohne sie wahrscheinlich nie kennengelernt... Aber dann
stellte sie sich Monas Reaktion vor, wenn sie mit dem Ding im Käfig aufkreuzte, und das Lächeln
verging ihr.
Beide Uhren waren sich übrigens einig, dass es inzwischen kurz nach drei war. Luisa war zufrieden:
Inzwischen kannte sie sich recht gut in der Stadt aus und wusste, dass es zum Treffpunkt der Bande
nur etwa zwanzig Minuten Fußweg waren. Beschwingt ging sie zu ihrem Laptop, fest entschlossen,
die restliche Zeit für die letzte Sache zu nutzen, die sie vor ihrem Aufbruch ins Ungewisse noch
erledigen wollte.
Selbst Tage danach hatte Luisa das Erlebnis im Dojo keine Ruhe gelassen. Wieder und wieder
waren ihre Erinnerungen unbewusst zu dem Moment zurückgekehrt, in dem der Junge mit
Schmerzen vor ihr zusammengebrochen war, immer in der Hoffnung, dass es endlich bei ihr Klick
machen würde. Aber das einzige Klicken, das sie je hörte, war das ihrer Nägel, die irgendwann wie
von selbst anfingen, auf ihrem Schreibtisch herumzutappen. Sogar in der Schule erwischte sie sich
manchmal dabei, wie sie nicht dem Unterricht, sondern dem Zug ihrer Gedanken folgte – was
normalerweise eher untypisch für sie war.
Aber untypisch war auch, dass sie sich auf etwas so lange keinen Reim machen konnte. Natürlich
hatte es auch in Yasmins Dojo manchmal Unfälle gegeben: Ein ungeplanter Schlag gegen das Kinn
oder einen Tritt in den Bauch – alles das war vorgekommen, aber nie hatte sie es erlebt, dass eines
der Mädchen so reagierte wie der Junge, dem sie versehentlich zwischen die Beine getreten hatte!
Das Einzige, was sie sich vorstellen konnte war, dass sie vielleicht eine frische Verletzung getroffen
hatte – aber an der Stelle...?
Die Stelle war, wie sie sich eingestehen musste, zumindest ein Mitgrund, weshalb ihre Gedanken
immer wieder zu dem Ereignis zurückkehrten. Besonders hatte sich Luisa bisher eigentlich nie für
Jungs interessiert; allmählich begann sie sich allerdings zu fragen, ob das nicht zum Teil daran lag,
dass sie nie wirklich welche gesehen hatte. Nach der gemischten Grundschule hatten ihre Eltern sie
an einer reinen Mädchenschule angemeldet, weil die günstig gelegen und sehr klein war. Nachdem
sie fast zwei Jahre dort verbracht hatte, war sie dann hierhergekommen und hatte wieder
angefangen, eine gemischte Schule zu besuchen – ein Unterschied wie Tag und Nacht!
Mit Jungs ging es im Unterricht plötzlich viel aufregender zu. Klar, die Hälfte der Zeit nervten sie
einfach; aber dann fiel wieder einem von ihnen irgendein blöder Kommentar oder ein witziger
Streich ein, und die ganze Klasse brach in Gelächter aus. Verglichen damit waren die zwei Jahre an
der Mädchenschule stinklangweilig gewesen. Was sie auch schnell gemerkt hatte, war, dass Jungs
sich ständig gegenseitig bei allem Möglichen übertreffen wollten. Da es Luisa auch nicht gerade an
Ehrgeiz mangelte, hatte sie das auf Anhieb nachvollziehen können, auch wenn sie fand, dass die
Jungen es damit – wie bei praktisch allem – wieder mal übertrieben. Und schließlich hatte sie jetzt
auch zum ersten Mal die Gelegenheit, auf dem Pausenhof Jungen zu sehen, die zwei, drei Jahre
älter waren als sie. Es verblüffte sie immer wieder, wie anders diese Jungen im Vergleich zu denen
in ihrem eigenen Alter waren. Von der lässigen Art, wie sie auftraten, bis hin zu den dramatischen
körperlichen Unterschieden gab es da für sie keine echte Gemeinsamkeit.
Der Junge im Dojo war genau so einer gewesen. Leider war der Kurs so groß gewesen, dass sie nie
seinen Namen mitbekommen hatte. Als sie dann miteinander trainieren sollten, ging es so schnell,
dass sie keine Chance hatte, ihn danach zu fragen. Sie hatte kurz daran gedacht, ihren Mut
zusammenzunehmen und das nach dem Training nachzuholen – aber dazu sollte es dann ja leider
nicht mehr kommen...
Umso genauer erinnerte sie sich an den Moment, in dem ihr nackter Fuß in seinem Schritt
einschlug. Dabei hatte sie kurz an ihrem Spann zwei halb-feste (es war schwer zu beschreiben)
Dinger gespürt, bevor die seltsame Empfindung durch die Härte seines Beckens ersetzt wurde.
Mädchenschule hin oder her – natürlich konnte sie eins und eins zusammenzählen und sich
ausrechnen, dass sie zuerst seine Hoden getroffen haben musste. Obwohl sie sich die, ausgehend
von den Zeichnungen in ihren Biologiebüchern irgendwie kleiner vorgestellt hatte...aber vielleicht
bewertete sie die kurze Empfindung im Nachhinein auch nur über. Weiter gebracht hatte sie diese
Erkenntnis ohnehin nicht – sie hatte immer noch keine Erklärung für seine extreme Reaktion! War
das Becken bei Jungen empfindlicher als bei Mädchen? Irgendwie bezweifelte sie das...
Der Durchbruch kam, als sie eines Abends in ihrem Zimmer noch ein paar Gleichgewichtsübungen
machte, die sie noch von ihrer Zeit bei Yasmin kannte. Als ihr Kopf wieder einmal zu dem
altbekannten Thema abschweifte, präsentierte der Rest ihres Körpers ihr prompt die Rechnung
dafür: Sie verlor das Gleichgewicht und fiel unsanft auf den Hintern. Der Fluch, der ihr schon auf
den Lippen lag, blieb dort liegen, als der kurze Schock plötzlich eine Erinnerung wachrüttelte, die
sie schon halb vergessen hatte.
Sie hatte damals gerade seit ein paar Wochen Romanescu gelernt; trotzdem war sie bereits Feuer
und Flamme für ihren neuen Sport gewesen. Inzwischen kannte sie auch die Regeln, die in Yasmins
Dojo herrschten und über deren Einhaltung die Maestra unerbittlich wachte. Eine dieser Regeln war
die strenge Unterteilung der Mädchen in zwei Gruppen: Die Jüngeren und die Älteren. Erst
Mädchen ab 12 Jahren konnten in die älteren Gruppe – unabhängig davon, wie weit sie ansonsten in
ihrem Training waren. Abstufungen dieser Art gab es in Yasmins Schule ohnehin nur wenige; sie
betonte immer wieder, dass Anfänger von Meistern und Meister von Anfängern lernen konnten.
Umso strenger war sie bei der Trennung zwischen Jüngeren und Älteren: Letztere konnten an
speziellen Stunden teilnehmen, die grundsätzlich nach dem normalen Training stattfanden und für
Jüngere tabu waren. Es hatte Jasmin daher immer besonders geärgert, dass ihre Eltern ausgerechnet
ein paar Monate vor ihrem zwölften Geburtstag umziehen mussten, kurz bevor das Geheimnis
endlich gelüftet worden wäre.
Nicht, dass sie es nicht lange vorher einmal auf eigene Faust probiert hätte...
Eines Tages war sie nach dem Training schon halb zu Hause gewesen, als sie bemerkt hatte, dass
ihre Uhr fehlte. Sie glaubte sich vage zu erinnern, dass sie sie beim Umziehen abgelegt hatte, damit
sich ihr Pulli nicht darin verhedderte. Sofort war sie umgekehrt und zurück zum Dojo gegangen, in
der Hoffnung, dass Yasmin noch nicht abgeschlossen hatte. Tatsächlich war noch alles offen und die
Uhr genau da, wo sie vermutet hatte. Erleichtert legte Luisa sie an, als sie plötzlich Geräusche aus
der Halle hörte. Nanu – das Training war doch schon lange vorbei! Dann erinnerte sie sich:
Dienstags war ja immer das spezielle Training für die Älteren...
Sofort spürte sie die Neugier wie eine körperliche Kraft: Was war es, was Jasmin den älteren
Mädchen beibrachte, dass sie so ein Geheimnis daraus machte? Wenn sie nur einen kurzen Blick in
die Halle werfen würde – vielleicht konnte sie sich ja irgendwelche Geheimtechniken abschauen,
die sie dann heimlich bei sich zu Hause üben konnte! Sie gab sich der Vorstellung ein paar
Momente hin, bevor die Vernunft ihr endlich Zügel anlegte: Der einzige Weg in die Halle war durch
die große Doppeltür – und wenn sie den nahm, würde Yasmin sie sofort bemerken und hochkant aus
dem Dojo werfen!
Luisa wollte sich schon umdrehen und endgültig gehen, als sie etwas Anderes bemerkte: Die Türen
waren geschlossen...aber darüber gab es ein großes Fenster, durch das man problemlos ins Innere
blicken konnte! Nur war es zu hoch...aber...
Sie lief zurück in die Umkleide und fand auf Anhieb den einzelnen Stuhl, der dort immer in der
Ecke stand und als Ablage für alles Mögliche diente. Sie packte ihn und stellte ihn draußen
probeweise vor die Tür. Wenn sie es schaffte, sicheren Stand auf der Lehne zu finden...
Kaum hatte sie den Gedanken gefasst, stand sie auch schon auf der Sitzfläche des Stuhls, dann mit
einem Fuß auf der Lehne. Sie nahm ihren Mut zusammen und zog den zweiten nach; der Stuhl
wackelte, Luisa packte schnell den vorstehenden Rahmen, in den das Fenster eingelassen war, und
zog sich auf den Zehenspitzen so weit nach oben, bis sie endlich die vertraute Halle vor Augen
hatte.
Mit klopfendem Herzen beobachtete sie, wie Maestra Yasmin dort tatsächlich mit einer kleinen
Gruppe Mädchen Partnerübungen durchzuführen schien. Im ersten Moment war sie enttäuscht:
Nichts an den Übungen schien besonders ungewöhnlich zu sein, eher im Gegenteil: Was die
Mädchen da ausführten, das hatte sogar sie schon gelernt!
Aber bald merkte sie, dass der Unterschied nicht in den Techniken, sondern in der Übung selbst
bestand: Normalerweise mussten sie von einer Übung eine bestimmte Zahl von Wiederholungen
machen, bevor es dann wechselte und ihre Partnerin dran war. Aber hier schien das anders zu sein:
Manche Mädchen führten eine Übung zehnmal oder öfters aus, bevor sie endlich von der
Angreiferin zur Verteidigerin wurden, während andere es nur zwei- oder sogar einmal machen
mussten! Welche Regel steckte hinter diesen Übungen?
Als ihre Augen dem Tritt eines der Mädchen folgten, sah sie noch etwas Anderes. Die Mädchen
trugen zwar die normalen Trainingsanzüge von Yasmins Dojo; aber die Gürtel saßen tiefer als
normal. Und außerdem...
Luisa musste sich ein Kichern verkneifen, als sie bemerkte, dass bei jedem Mädchen in der Mitte
des Gürtels eine Socke befestigt war! Und nicht nur das: die Socken schienen ganz unten mit etwas
gefüllt zu sein, dessen Umrisse aussahen wie... zwei Walnüsse??
Ihre Augen huschten kurz durch die Halle. Tatsächlich – da stand wirklich eine kleine Schale mit
Walnüssen hinter Yasmin, neben der noch zwei, drei ungefüllte Socken lagen!
Wie gebannt starrte Luisa durch die Scheibe und versuchte aus dem, was sich auf der anderen Seite
abspielte, schlau zu werden. Nach ein paar Minuten dämmerte ihr dann allmählich, worum es bei
der seltsamen Übung ging: Die Mädchen durften anscheinend ausschließlich auf die Socke mit den
Walnüssen zielen; wenn es der Verteidigerin gelang, den Angriff abzuwehren oder auszuweichen,
musste die Angreiferin es so lange mit derselben oder einer anderen Technik versuchen, bis es ihr
endlich gelang, die beiden Walnüsse zu treffen! Erst dann wechselten die Rollen und die
Verteidigerin wurde zur neuen Angreiferin.
Luisa versuchte noch herauszufinden, was genau der Sinn einer solchen Übung sein könnte, als sie
plötzlich sah, wie eines der Mädchen die Socke ihrer Kontrahentin bei einem kräftigen Aufwärtstritt
noch gerade so mit dem vorderen Drittel ihres Fußes erwischte. Dabei löste sich die Socke jedoch
vom Gürtel und eine der Walnüsse flog in hohem Bogen davon!
Diesmal konnte Luisa das Kichern nicht mehr zurückhalten – und merkte sofort, wie der Stuhl unter
ihr plötzlich bedenklich zu wippen begann! Panisch lies sie sofort den Rahmen los und fiel wie ein
nasser Sack nach unten. Unbeholfen kam sie auf der Sitzfläche des Stuhles auf, dessen Vorderbeine
mit einem lauten Knall auf dem Boden aufkamen. Luisa war vor Schreck einen Moment lang wie
gelähmt – dann rannte sie mit rasendem Herzen aus dem Dojo, fest überzeugt, dass Yasmin den
Lärm sicher gehört haben musste.
Sie hatte nie herausgefunden, ob die Maestra wirklich etwas gehört hatte oder nicht; aber als sie
damals in ihrem Zimmer auf dem Boden saß, hatte sie plötzlich das Gefühl, dass es zwischen dem,
was sie damals beobachtet hatte, und dem, was vor ein paar Tagen passiert war, irgendeinen
Zusammenhang gab.
Und die einzige Person, die ihr helfen konnte, das Rätsel zu lüften, war Yasmin.
Ein paar Tage später hatte Luisa dann ihren Mut zusammengenommen und ihrer alten Maestra eine
Email geschrieben; die Adresse hatte sie von der offiziellen Webseite des Dojos. Sie hatte gefühlt
ein Dutzend Mal neu angesetzt, bis sie das Gefühl hatte, dass der Text zugleich vage und konkret
genug war, dass sie notfalls so tun konnte, als sei alles bloß ein Missverständnis gewesen – falls sie
überhaupt eine Antwort bekommen würde.
Zu ihrer Freude wurde sie nicht enttäuscht: Zwei Tage später schickte ihr Yasmin wirklich eine
lange Nachricht, in der sie ihr zu ihrem geglückten Umzug gratulierte und ihr viel Glück bei der
Suche nach einem neuen Dojo wünschte. Sie gab ihr sogar den Namen einer kleinen Schule, an der
eine der beiden Trainerinnen sechs Jahre lang bei ihr gelernt hatte. Luisa hatte sich unglaublich
gefreut und beim Lesen gemerkt, wie sehr sie die Maestra vermisst hatte. Yasmin schrieb zu ihrer
Überraschung genau so, wie sie redete, und so fühlte es sich ein bisschen so an, als ob ihre alte
Meisterin direkt neben ihr stand.
Kryptisch wurde Yasmins Stil erst, als sie am Schluss der Email endlich auf die Frage einging, die
ja der eigentliche Auslöser für Luisas Nachricht gewesen war. Zur Überraschung des
schwarzhaarigen Mädchens gratulierte Yasmin ihr zuerst einmal dazu, dass sie auf dem besten Weg
sei, von selbst das herauszufinden, was sie den meisten Mädchen der älteren Gruppe erst mühsam
beibringen musste. Der Anflug von Stolz, den sie beim Lesen dieser Zeilen verspürte – Lob war
eine Währung, die Yasmin sehr sparsam ausgab – verflüchtigte sich, als der einzige weitere Satz,
den Yasmin auf dieses Thema verwendete, in der Aufforderung bestand, Luisa solle weiterhin „die
Augen offen halten“ und ihr ruhig von ihren Beobachtungen erzählen – und den Schlüssen, die sie
daraus ziehen würde.
Die unterschwellige Enttäuschung, die Luisa angesichts dieser ziemlich dürren Auskunft empfand,
wurde schnell durch neu erwachten Ehrgeiz ersetzt. Immerhin: Sie wusste jetzt definitiv, dass es da
etwas herauszufinden gab – und dass es tatsächlich mit dem zusammenhing, was Yasmin den
Älteren hinter verschlossenen Türen beibrachte! Außerdem kannte sie dieses Verhalten von der
Maestra: Yasmin hatte ihnen oft gesagt, dass eine Bewegung mit dem kleinen Finger, die man selbst
entdeckte, wertvoller sei als ein Flickflack, den man beigebracht bekam. Oft hatte sie ihnen deshalb
nicht die neuen Techniken gezeigt, die sie ihnen beibringen wollte, sondern nur die Angriffe, gegen
die sie wirken sollten. Die Mädchen mussten dann selbst herausfinden, welche Bewegung den
jeweiligen Schlag oder Tritt abwehren konnte – und überraschend oft war ihnen das auch wirklich
gelungen. Luisa hatte damals beschlossen, dass es diesmal nicht anders sein würde: Sie würde die
Jungen in ihrer Umgebung genau beobachten und ihnen nach und nach ihr Geheimnis abluchsen!
Genau deshalb setzte sie sich jetzt, eine halbe Stunde bevor sie zu einem Treffen aufbrechen würde,
das die Maestra fast sicher nicht gutgeheißen hätte, vor ihren Laptop, um sich die erste Nachricht,
die sie seitdem an Yasmin verfasst hatte, noch einmal durchzulesen.
Liebe Yasmin,
danke für deine Antwort!!!
Ich werde mir das Dojo ganz sicher bald anschauen! Natürlich richte ich Martina dann auch Grüße
von dir aus! :)
Ich habe deinen Rat außerdem beherzigt und „die Augen offen gehalten“ und vorgestern gleich
etwas Spannendes beobachtet.
Und zwar war ich gerade auf dem Balkon...
***
Zu den unbestreitbaren Vorteilen ihres neuen Zuhauses gehörte, dass ihre Eltern entgegen Luisas
Erwartung nicht von der alten Wohnung in eine neue gezogen waren, sondern stattdessen in ein
kleines Reihenhaus am Stadtrand. Um sie zu überraschen, hatten sie ihr zuerst nichts davon erzählt;
erst als sie in dem Raum gestanden hatte, der ihr neues Zimmer sein würde, und schockiert gefragt
hatte, wie sie alle hier Platz haben sollten, hatten ihre Eltern die Bombe platzen lassen.
Manchmal war sie immer noch überwältigt davon, wie viel Platz sie plötzlich ganz für sich alleine
hatte. Einer der Gründe, wieso sie immer so viel Zeit in Sportvereinen oder irgendwelchen
Wahlkursen in der Schule verbracht hatte, war, dass sie das kleine, düstere Zimmer in ihrer alten
Wohnung nach ein paar Stunden regelmäßig als bedrückend empfunden hatte. Hier dagegen hatte
sie nicht nur Platz, sondern auch Licht, das durch ein breites und zwei schmalere Fenster großzügig
in den Raum flutete.
Und noch einen anderen, unerhörten Luxus bot ihr kleines Reich: einen richtigen Balkon, auf dem
ein Stuhl Platz hatte und auf dem Luisa, wenn sie erst einmal zuhause war, im Sommer fast jeden
ihrer Nachmittage und Abende verbrachte. Oft legte sie dann das Buch, das sie gerade las, zur Seite,
legte die Ellenbogen auf das Geländer und musterte ein paar Minuten lang einfach nur das Bild, das
sich vor ihr ausbreitete. In einiger Entfernung konnte sie die letzte Zeile Häuser sehen, bevor
dahinter der kleine Wald begann, den sie schon am ersten Wochenende nach ihrem Umzug erkundet
hatte; zwischen dieser Grenze und ihrem eigenen Haus lag ein kleiner Basketballplatz, an den eine
große Wiese angrenzte, die sich mehr oder weniger bis zum Horizont zog – was für ein Kontrast zu
ihrer vorigen Wohnung, wo ihre ganze Aussicht die gegenüberliegende Häuserfassade und ein
Streifen grauer Himmel gewesen war!
Der Basketballplatz war ihr sofort aufgefallen, weil die Netze der Körbe dort nicht aus Stoff,
sondern aus schmalen Ketten bestanden. Bisher hatte sie das nur in amerikanischen Filmen gesehen
und deshalb auf Anhieb spannend gefunden. Und es war nicht der einzige Anblick geblieben, den
sie dort spannend gefunden hatte...
Da Luisa besonders in den ersten Tagen fast jede Minute in ihrem Zimmer auf dem Balkon
verbrachte, hatte sie recht schnell ein Gefühl für den Tagesrhythmus der übrigen Bewohner der
kleinen Siedlung entwickelt. Der war allerdings relativ langweilig: Meistens sah sie nur, wie Leute
um fünf oder sechs aus der Arbeit zurückkamen und dann meistens für den Rest des Tages in ihren
Häusern verschwanden. Manchmal gingen Eltern mit ihren Kindern spazieren oder mal ein junges
Pärchen, aber meistens passierte auf dem Viereck zwischen den beiden Häuserzeilen und der Wiese
nichts, was den Helden in ihren Büchern ihre Aufmerksamkeit streitig gemacht hätte. Außer...
Außer am Dienstag und Donnerstag Nachmittag. Da kam nämlich jedes Mal irgendwann zwischen
drei und sechs Uhr ein Junge auf den Basketballplatz und übte mindestens zwei Stunden lang von
Dribbeln bis Werfen alles, was man mit dem orangefarbenen Leder anstellen konnte. Der Teil hatte
Luisa allerdings relativ kalt gelassen: Basketball hatte sie nie wirklich interessiert und sie brauchte
ungefähr fünf Minuten, um festzustellen, dass es in echt genau so langweilig war wie im Fernsehen.
Der Junge selbst dagegen...der war zu ihrer Überraschung mit jedem Mal interessanter für sie
geworden.
Es war aus der Distanz nicht ganz leicht zu sagen, aber sie schätze, dass er ungefähr 14 Jahre alt
sein musste. Er war dunkelhaarig, hatte den sehnigen Körperbau, der für Basketballspieler typisch
war; allerdings fiel ihr auf, dass er nicht ganz so groß war, wie man es in diesem Sport vielleicht
erwarten würde. Trotzdem merkte sie schnell, dass er ziemlich gut war: Seine Bewegungen waren
geschmeidig und kontrolliert, seine Würfe gingen fast nie daneben. Und dass ihm zur perfekten
Größe noch ein paar Zentimeter fehlten, glich er mit beeindruckender Sprungkraft aus. Irgendwann
hatte Luisa sich dabei ertappt, wie sie mit den Augen fasziniert jeder seiner Bewegungen folgte –
wie lange schon, hätte sie nicht sagen können!
Jedenfalls wurde aus dem einmaligen Zufall sehr schnell eine feste Gewohnheit: Jeden Dienstag
und Donnerstag machte sie es sich mit einem Buch und einem Getränk auf ihrem Balkon bequem,
und immer wenn die Geschichte sich ein bisschen zu ziehen begann, schaute sie dem Jungen bei
seinen Übungen zu; wenn sie davon erst einmal genug hatte, kehrte sie wieder zu ihrem Buch
zurück. Eine Zeitlang hatte zwischen den beiden ungefähr Gleichstand geherrscht; aber dann war
vor zwei Monaten endlich der Sommer gekommen, und der Junge hatte plötzlich angefangen,
regelmäßig nach ungefähr einer halben Stunde sein T-Shirt auszuziehen! Mit einem Mal bemerkte
Luisa, wie ihre Augen immer öfters über das Geländer des Balkons nach unten spähten – sogar an
Stellen der Geschichte, die eigentlich recht spannend waren...
Genau so war es auch vor einer Woche gewesen – mit dem kleinen, aber wichtigen Unterschied,
dass diesmal nicht nur ein Junge dafür sorgte, dass sie mit ihrem Buch nicht weiterkam, sondern
gleich zwei. Der Junge, an den sie sich in den letzten Wochen gewöhnt hatte, war diesmal nämlich
nicht alleine, sondern hatte anscheinend einen seiner Freunde mitgebracht – oder zumindest
jemanden, der genauso alt und genauso gut im Basketball war. Jedenfalls lief das Training an
diesem Tag deutlich anders ab als sonst: Anstatt endlos Techniken zu üben, lieferten sich die beiden
Jungen nach einer kurzen Aufwärmphase sofort ein hitziges Basketballduell.
Obwohl sich Luisas Einstellung zu dem Sport, bei dem der Ball aussah wie eine überdimensionierte
Orange, nicht wirklich geändert hatte, schlug sie diese „Privatvorführung“ trotzdem sofort in ihren
Bann. Es faszinierte sie, wie ernst die Jungen das Spiel zu nehmen schienen: Wann immer einer von
ihnen es schaffte, den anderen auszudribbeln oder sogar einen Korb zu machen, schickte er fast
immer noch einen ironischen Kommentar oder irgendeine provozierende Geste hinterher. Die Worte
konnte Luisa meistens nicht verstehen, dafür waren die Jungen dann doch zu weit weg; aber einige
der Handzeichen und Posen waren so eindeutig, dass sie mehr als einmal darüber kichern musste...
Die weißen Achselhemden der Jungen waren diesmal noch schneller durchgeschwitzt als bisher,
und schon nach einer Viertelstunde spielten die beiden „oben ohne“. Luisa war nicht überrascht:
Der Junge, den sie bisher immer beobachtet hatte, war zwar etwas schneller und seine Technik
ausgefeilter, aber dafür war sein Gegner ein kleines Stück größer und besser im Werfen; keiner von
ihnen hatte also einen entscheidenden Vorteil, und beide mussten alles geben, um gegen ihren
jeweiligen Rivalen anzukommen. Jedenfalls genügten dem schwarzhaarigen Mädchen ein paar
wenige Blicke, um zu sehen, dass die Jungen sich auch in optischer Hinsicht „ebenbürtig“ waren:
Der Neuankömmling war vielleicht noch etwas drahtiger gebaut als der „Stammspieler“, der dafür
etwas breitere Schultern hatte. Trotzdem merkte Luisa, dass ihr Blick etwas häufiger zu „ihrem“
Jungen wanderte als zu seinem Freund: Die Haut über seinen Muskeln hatte sich nämlich im Lauf
der letzten Wochen allmählich gebräunt, was sie sehr ansprechend fand – besonders wenn später
auch noch die Schweißperlen darauf glitzern würden. Sein Trainingspartner dagegen hatte noch
relativ helle Haut – vielleicht war er in einem Verein und trainierte immer in der Halle?
Luisas Gedanken hingen noch etwas träge dieser Frage nach, während ihre Augen flinker als je
zuvor zwischen den beiden Jungen hin und her huschten, als plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig
geschahen.
Dem braungebrannten Jungen war es gerade gelungen, seinen Gegner mit einer Finte dazu zu
bringen, einen Ausfallschritt in Richtung Korb zu machen, bevor er nach einer eleganten Drehung
zu einem Wurf ansetzte. Der zweite Junge musste kurz um sein Gleichgewicht kämpfen und stützte
sich schließlich am Ständer der Korbanlage ab, gerade rechtzeitig, um noch zu sehen, wie der Ball
nach einem perfekten Bogen in den Korb ging. Frustriert schlug er einmal in die Luft, während die
orange Kugel nach unten fiel; kaum war sie vom Boden abgeprallt, packte er sie und schmetterte sie
zornig mit beiden Händen auf den Boden – ohne zu bemerken, dass der erste Junge gerade eben zu
einem Siegessprung angesetzt hatte, bei dem er so weit er konnte in die Luft sprang und an der
höchsten Stelle ein Bein nach vorne und eines nach hinten warf!
Luisa hatte einen Moment lang das Gefühl, dass die Zeit eine Spur langsamer verging, als ihr
Instinkt begriff, was gleich passieren würde, noch bevor ihr Verstand den Gedanken bewusst gefasst
hatte.
Der Ball prallte mit voller Wucht vom Boden ab und stieg scharf nach oben; der Junge hatte den
Zenit seines Sprunges gerade überschritten, die Beine aber noch weit auseinander – und genau
dazwischen schlug das harte Leder einen Wimpernschlag später in seine dünne schwarze
Sportshorts ein! Noch in der Luft verzog sich der triumphierende Gesichtsausdruck des Jungen zu
einem überraschten Keuchen. Kaum waren seine Füße auf dem Boden aufgekommen, knickte er in
der Hüfte ein und machte ein paar taumelnde Schritte nach hinten, das Gesicht vor Schmerzen
verzogen und die Hände zwischen die Beine gepresst.
Luisa realisierte erst mit einiger Verspätung, dass sie aufgesprungen war und dicht am Geländer des
Balkons stand, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, die Augen angezogen von den
Ereignissen, die sich unter ihr abspielten, wie ein Stück Eisen von einem Magneten.
Der andere Junge hatte inzwischen wohl gemerkt, was passiert war; aber zu Luisas Überraschung
ging er nicht sofort zu seinem Freund, um ihm zu helfen oder wenigstens zu fragen, was mit ihm los
war. Statt dessen beobachtete sie verwundert, wie er laut auflachte und sich allem Anschein nach
über den ersten Jungen lustig machte! Auch als der einige Momente später mit schmerzerfülltem
Stöhnen auf die Knie ging, den Oberkörper so weit nach vorne gebeugt, dass seine Stirn fast den
Boden berührte, stand der andere nur mit einem amüsierten Grinsen im Gesicht da. Luisa konnte
hören, dass er immer wieder irgendetwas zu dem braungebrannten Jungen sagte, aber sie war zu
weit weg, um die Worte genau verstehen zu können. Irgendwann griff er sich dann den Ball und
setzte sich auf eine Bank, die am Rand des Spielfeldes stand. Luisa nahm an, dass er wohl abwarten
wollte, bis der andere Junge wieder weiterspielen konnte; eher am Rande registrierte sie, dass er den
Ball zurück in das weiße Tragenetz stopfte, in dem er ihn vorher zum Platz gebracht hatte.
Luisas Herz klopfte und sie spürte genau dasselbe Kribbeln im Körper, das sie hatte, wenn sie an ihr
Erlebnis im Dojo zurückdachte. Was sich vor ihren Augen abspielte, war genau dieselbe Situation
wie damals – was für ein Glücksfall! Aber bald spürte sie, wie ihre Euphorie einen Dämpfer erhielt.
Denn wirklich schlau wurde sie aus der Szene vor ihren Augen, wenn sie ganz ehrlich zu sich war,
immer noch nicht. Inzwischen war ihr klar, dass die Ursache für diese seltsame Anfälligkeit der
Jungen zwischen ihren Beinen liegen musste – es gab keine andere Erklärung mehr! Aber
andererseits: Wenn das wirklich so war – warum fand der andere Junge es dann so witzig? Würde er
wirklich über so etwas lachen, wenn er genau dieselbe Schwäche hätte? Das ergab doch keinen
Sinn! Verwirrt beschloss sie abzuwarten, bis der athletische Junge sich wieder erholt haben würde;
das würde sicher jeden Moment der Fall sein, und vielleicht würde er dann irgendetwas tun, was ihr
helfen würde, das Rätsel zu lösen...
Gespannt wartete Luisa also ab, was gleich passieren würde.
Und wartete.
Und wartete.
Mit wachsender Verwirrung beobachtete sie, wie der Junge fast unverändert in dieser Stellung blieb,
das Gesicht immer noch verzogen. Wenn sie ganz genau hinsah, konnte sie sogar erkennen, wie er
immer wieder vor Schmerzen leicht die Zähne fletschte, die er scheinbar fest zusammengebissen
hatte. Sein Körper schien angespannt, denn trotz der Entfernung konnte sie das Muskelrelief seines
Rückens deutlich erkennen. Dieser Kontrast faszinierte Luisa: Trotz der Kraft, die sein
eindrucksvoller Oberkörper eigentlich ausstrahlte, wirkte der Junge gerade alles andere als
beeindruckend; statt dessen schien er nicht einmal in der Lage zu sein, aufzustehen!
Irgendwann holte Luisa eine Stoppuhr aus ihrem Zimmer und schaltete sie ein. Wie gebannt
lauschte sie den Geräuschen, die der Junge von Zeit zu Zeit von sich gab – ob es dieselben waren,
die sie von dem Jungen im Dojo auch gehört hatte? Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie keine Ahnung
hatte, wie lang der sich damals so komisch auf dem Boden gewunden hatte. Auch so lange wie der
Junge auf dem Basketballfeld? War ein Tritt mit dem Fuß schlimmer als ein Basketball?
Solche Fragen und noch ein Dutzend andere geisterten ihr durch den Kopf, als sie endlich sah, wie
der Junge sich nach einer gefühlten Ewigkeit langsam wieder aufrichtete. Sie schaute genau hin:
Der schmerzerfüllte Ausdruck von vorhin war zwar von seinem Gesicht verschwunden, aber
wirklich entspannt wirkte er immer noch nicht. Zumindest nahm er endlich die Hände von seinem
Schritt und legt sie auf seine Schenkel. Er ging noch mal kurz mit dem Oberkörper nach vorne,
dann stand er langsam auf. Luisa drückte auf die Stoppuhr – und konnte nicht glauben, was sie da
sah! Ganze neun Minuten lang war der Zeitmesser mitgelaufen – und sie war sich sicher, dass sie
erst nach zwei Minuten oder so eingeschaltet hatte!
Verblüfft beobachtete sie, wie der zweite Junge von der Bank aufstand und auf den ersten zuging,
den Ball locker über die Schulter geworfen. Als er ihn fast erreicht hatte, ließ er das Netz plötzlich
von der Schulter gleiten und aus der Bewegung heraus nach vorne schwingen – direkt zwischen die
Beine des anderen Jungen! Der war anscheinend genau so überrascht wie Luisa, denn obwohl er die
Hüfte panisch zur Seite drehte, hätte er es nicht mehr rechtzeitig geschafft, dem Basketball
auszuweichen, wenn der andere Junge das Netz nicht im letzten Moment nach hinten gezogen hätte!
Sofort schallte sein hämisches Gelächter über das Spielfeld bis hinauf zu ihrem Balkon. Der
braungebrannte Junge packte jetzt sein Muskelshirt und ging sichtlich verärgert vom Platz. Nach
einem kurzen Moment warf sich sein Freund das Netz wieder über die Schulter und folgte ihm.
***
Ich hab den beiden noch nachgeschaut, bis sie vom Spielfeld verschwunden waren. Dann bin ich
gleich an meinen Laptop gegangen und hab alles wichtige in Stichpunkten aufgeschrieben damit ich
nichts vergesse. Daraus hab ich dann die Email gemacht, die du gerade gelesen hast! :)
So, jetzt muss ich aber erst mal weiter!
Bis bald
Luisa
Das schwarzhaarige Mädchen nickte zufrieden – Deutsch war nicht ihr Lieblingsfach, aber sie
hoffte, dass Yasmin mit ihrer Beschreibung etwas anfangen konnte. Sie besserte noch schnell zwei,
drei Rechtschreibfehler aus, die der Autokorrektur im Gegensatz zu ihr aufgefallen waren, und
klickte schließlich auf Senden. Als das Programm ihr anzeigte, dass die Email erfolgreich versandt
worden war, spürte sie, wie sich der Stolz über ihren ersten Erfolg bei ihren „Nachforschungen“ und
die Anspannung angesichts von was immer ihr heute noch bevorstehen würde zu einem
unbeschreiblichen Gefühl verbanden, das sie einen Moment lang fast überwältigte. Als würde
jemand blitzende Funken aus ihren Knochen schlagen, die, vom Blut mitgerissen, durch ihren
ganzen Körper wirbelten – besser konnte sie es nicht beschreiben!
Plötzlich musste sie laut lachen. Zusammen mit einem neuen Zuhause schien sie vor vier Monaten
auch gleich ein neues Leben bekommen zu haben – und alles hatte ausgerechnet mit einem dummen
Unfall in einem miesen Dojo angefangen! Sie war seitdem nie mehr dagewesen, und der Junge von
damals hatte sicher schon lange vergessen, dass sie überhaupt existierte.
Luisa fuhr zusammen, als sie plötzlich realisierte, dass sie minutenlang in ihrer Innenwelt
versunken war. Automatisch blickte sie auf die Uhr: Zwanzig vor vier – sie musste los!
Sie klappte den Laptop zu, griff sich den Hausschlüssel vom Haken neben ihrem Schreibtisch und
rannte polternd die Treppe hinunter. Die Tür fiel geräuschvoll hinter ihr ins Schloss, dann fuhr ihr
auch schon der warme Nachmittagswind in die Haare und ließ ihren Zopf einen Moment lang hinter
ihr her flattern wie den Schweif eines Stoffdrachens.
*
„Na ja“, war Pauls Stimme in Jojo's Gedanken gedrungen, der einen Moment lang überwältigt
gewesen war von der plötzlichen Erkenntnis, was wirklich hinter dem Spott der Jungen steckte,
„...und dann musst du auch mal genauer hinschauen und dich fragen, wer's dir gerade am dicksten
aufs Brot schmiert...“.
Jojo hatte die Stirn gerunzelt. Er wollte schon trotzig „Na, alle!“ rufen, als er mit etwas Verspätung
die Nuance in Pauls Formulierung registrierte. Er dachte kurz nach; dann sagte er etwas
vorsichtiger: „Naja, nerven tun sie mich alle...aber am schlimmsten...hm...am schlimmsten ist
wahrscheinlich Ole! Okay, aber der ist eigentlich immer so. Und ansonsten...Markus und Anton,
würde ich sagen! Und vielleicht noch Pit.“
Paul nickte. „Genau – und jetzt überleg dir mal, wie nett du zu denen immer bist...“
Wieder hatte Jojo im ersten Moment das Gefühl, dass Paul plötzlich in Rätseln redete. Aber dann
spürte er auch schon, wie die Hitze an seinen Wangen nach oben kroch...
Ole hatte zwar die spitzeste Zunge der Klasse, aber im Sportunterricht war der gemütliche Junge
alles Anderes als spitze, und das hatten ihn die anderen Jungen auch schon immer spüren lassen –
inklusive Jojo, der mit Ole erst dann so richtig warm geworden war, als der mit dem Einsetzen der
Pubertät plötzlich sein Talent fürs Witzeerzählen und Schauspielern entdeckt hatte. Markus und
Anton dagegen machten Sport wie verrückt, waren aber beide klein und extrem schmächtig, woran
selbst das Einsetzen der Pubertät bislang nichts geändert hatte. Die kräftigeren Jungen machten sich
daher gerne den Spaß, einen von den beiden zu packen und einfach in den nächsten Mülleimer zu
stellen – oder in voller Kleidung unter die Dusche... Jedenfalls wusste Jojo das wieder nicht bloß
vom Hörensagen. Und Pit war sportlich und ganz normal gebaut, hatte aber einen Riesenzinken und
Akne für drei, was ihm den Spitznamen „Streuselkuchen“ eingebracht hatte – und darauf war zur
Abwechslung einmal nicht Ole gekommen, sondern...
„Fuck!“, flüsterte Jojo, der plötzlich das Gefühl hatte, bisher auf einem Auge komplett blind
gewesen zu sein.
„Bingo!“, meinte Paul mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ironisch fügte er hinzu: „Und
außerdem: So viel besser bist du eigentlich auch nicht! Oder hast du schon vergessen, wie du vor
drei Wochen auf die Sache mit Josch reagiert hast...?“
Diesmal verstand Jojo sofort, worauf Paul anspielte. Denn seiner Meinung nach war das, was Josch,
einem Jungen aus der Parallelklasse, vor knapp einem Monat passiert war, so ziemlich das Einzige,
was sich entfernt mit seiner Situation vergleichen ließ. Der 13-jährige hatte damals nach dem
Duschen in der Umkleidekabine den kapitalen Fehler begangen, sich nach vorne zu beugen, um
seine Waden und Füße abzutrocknen. Das an sich war schon ziemlich unvorsichtig; aber es kam
noch dazu, dass Josch, der seit drei Jahren im Nachwuchskader des örtlichen Fußballvereins spielte,
auffällig muskulöse Beine hatte, die sich in dieser Position automatisch anspannten. Das wurde ihm
deshalb zum Verhängnis, weil sich seine gut entwickelten Hoden beim Vorbeugen nach hinten
geschoben hatten und dann hinter seinen steinharten Muskeln eingeklemmt worden waren. Das
tat Josch zwar nicht weh – aber es machte seine empfindlichen Kugeln zum perfekten Ziel für
Niklas, der gerade selbst mit Duschen fertig geworden war und nach einem Handtuch griff, als sein
Blick plötzlich auf Joschs rausgestreckten Hintern fiel. Anstatt sich abzutrocknen, verknotete Niklas
daher schnell sein weißes Handtuch – ganze zweimal, wie Paul sich erinnerte, denn Josch hatte
unter den ungläubigen Blicken der übrigen Jungen absolut nicht mitbekommen, was sich hinter ihm
zusammenbraute, sondern seelenruhig weiter an seinen Zehen herumgerubbelt. Gebannt hatte Jojo
zugesehen, wie Niklas das Handtuch ein-, zwei-, drei-, ja ganze viermal herumwirbelte, bevor er
den harten Doppelknoten mit einer geschickten Bewegung aus dem Handgelenk nach vorne
schnalzen ließ.
Jojo konnte das kurze, klatschende Geräusch, mit dem der Knoten gegen Joschs blanke Juwelen
geprallt war, immer noch hören, wenn er sich darauf konzentrierte; er war damals instinktiv sogar
leicht zusammengezuckt. Dadurch, dass Joschs Hoden komplett zwischen seinen straffen Beinen
eingeklemmt waren, hatten sie keine Chance, zur Seite auszuweichen und so die Kraft des Aufpralls
wenigstens ein bisschen abzuschwächen; statt dessen wurden sie den Bruchteil einer Sekunde lang
zwischen dem breiten Knoten vor ihnen und der Wand aus Muskeln hinter ihnen eingequetscht –
und Jojo wusste seit dem schmerzhaften Erlebnis im Dojo besser als jeder Andere, wie weh genau
das tun konnte...
Erinnern konnte er sich auch noch an den halb überraschten, halb schmerzerfüllten – und verdächtig
hohen – Schrei, mit dem Josch fast augenblicklich aus seiner vorigen Stellung auf die Knie
gesunken war. Sekundenlang war der athletische Junge so da gekauert – den Oberkörper auf den
Fließen der Dusche, den Hintern nach oben weggestreckt und die Hände zu Fäusten geballt und
gegen den Boden gepresst, während eine davon immer noch sein Handtuch umklammerte – und
hatte vor Schmerzen gewimmert, während die übrigen Jungs in begeistertes Gejohle ausgebrochen
waren. Als Niklas sich stolz grinsend ein respektvolles High Five nach dem anderen abholte, rollte
Josch sich langsam auf die Seite und öffnete endlich die Beine. Er ließ das Handtuch los und legte
statt dessen eine Hand um seine attackierten Bälle, während die andere vor seinem
schmerzverzerrtem Gesicht war. Langsam begann er sich vor Niklas, der immer noch grinsend
dastand und gerade sein eigenes Handtuch wieder entknotete, um sich endlich abzutrocknen, mit
keuchenden, stöhnenden Geräuschen auf dem Boden zu wälzen. Selbst als Jojo sich volle zehn
Minuten später schon lange umgezogen und die Umkleide verlassen hatte, lag Josch immer noch
mit zusammengebissenen Zähnen auf dem Boden. Ein paar Tage später hatte er von einem Kumpel
aus der Parallelklasse erfahren, dass Josch sogar zu spät in die anschließende Geschichtsstunde
gekommen war. Jedenfalls war Niklas' Treffer so begnadet gewesen, dass die übrigen Jungs Josch
eine Zeitlang nur noch „Rührei-Josch“ nannten; auch dieser Spitzname konnte sich damals eine
gute Woche halten, bevor Josch endlich wieder seine Ruhe hatte.
Jojo, in dessen Kopf die Groschen gerade fielen wie die Dominosteine, brauchte nicht lange, um zu
begreifen, worauf Paul wirklich hinauswollte. Denn anders als Jojo war sein Kumpel damals gar
nicht dabei gewesen, als das passiert war. Statt dessen hatte er erst am nächsten Tag aus begeisterten
Erzählungen davon erfahren – aus Jojo's begeisterten Erzählungen, um genau zu sein. Dem hatte die
souveräne Art, mit der Niklas ausgerechnet Josch zu Boden hatte gehen lassen, damals nämlich
genauso imponiert wie den übrigen Jungen; jetzt erinnerte er sich sogar, wie er damals mit einem
begeisterten „Astrein!“ bei Niklas eingeschlagen hatte.
Jetzt, wo das Schicksal den Spieß umgedreht und plötzlich ihn zur Zielscheibe für den Spott der
halben Schule gemacht hatte, wunderte sich Jojo einen kurzen Moment lang über sich selbst.
Warum hatte er damals eigentlich so reagiert? Josch hatte ihm nie etwas getan; normalerweise
verstanden die beiden sich sogar ziemlich gut. Aber Pauls seltsame Fragen hatten Jojo gezwungen,
einmal ganz ehrlich zu sich zu sein – und wenn er das war, dann kannte er die Antwort...
Josch war bei den Jungen immer extrem populär gewesen: Er war mit Abstand der Beste im
Fußball, und seit er im Nachwuchskader spielte, war seine Sammlung an Autogrammen von
bekannten Fußballspielern sprunghaft gewachsen. Sein Selbstbewusstsein war entsprechend groß
und unter seinen Kumpeln gab er oft den Ton an, ganz davon abgesehen, dass er den Rest der
Schule beim traditionellen Fußballturnier am Sportfest regelmäßig vorführte. Bisher hatten die
Jungs das alles auch akzeptiert; aber Paul wusste aus eigener Erfahrung, dass sie von seinen Star-Allüren nicht immer begeistert gewesen waren. Dieses gewisse Ressentiment hatte sich im Laufe
des letzten Jahres noch verstärkt, als mehr und mehr Jungen ein Interesse an Mädchen zu
entwickeln begannen und feststellen mussten, dass der körperlich gut entwickelte, selbstsichere
Josch auch hier entscheidende Vorteile hatte.
Die meisten Jungen hatten inzwischen eingesehen, dass sie neben Josch nur in Ausnahmefällen eine
gute Figur machen konnten und zogen es daher vor, mit ihm befreundet zu sein, um sich wenigstens
ein bisschen in seinem Ruhm sonnen zu können. Nur mit anzusehen, wie der große Josch nach
Niklas' begnadetem Treffer in seine Eier genauso am Winseln war wie jeder andere Junge auch,
hätte ihnen deshalb schon enorm gut getan; aber tatsächlich übertraf seine Reaktion die kühnsten
Erwartungen der Jungen um Längen! Jojo konnte sich nicht erinnern, dass sich einer von ihnen
jemals so lange auf dem Boden hatte wälzen müssen wie Josch damals. Das hatte ihnen schon zu
denken gegeben, und ein paar Tage später erfuhren sie dann etwas von Sascha – einem Jungen aus
der Neunten, der kurze Zeit mit Josch im selben Kader gespielt hatte, bevor er aussortiert worden
war – was ihre Vermutungen bestätigte: Angeblich hatte Josch bei einem Probespiel nach etwa
sechzig Minuten den Ball mit voller Wucht zwischen die Beine bekommen – etwas, was einigen
von ihnen auch schon passiert war und, wie sie wussten, einen Jungen gleich mal für gute zehn
Minuten außer Gefecht setzen konnte. Genau das hatte Sascha damals auch erwartet; aber
tatsächlich hatte Josch damals volle zwanzig Minuten auf dem Rasen neben dem Spielfeld
verbracht und war auch danach nicht mehr in der Lage gewesen, weiterzuspielen. Für die Jungs war
das der letzte Beweis: Joschs Hoden waren offensichtlich noch empfindlicher, als es bei den
meisten von ihnen der Fall war!
Fast über Nacht hatten sich die Gewichte damals verschoben. In gewisser Weise war Josch bei den
Jungen noch beliebter geworden...allerdings nicht mehr unbedingt aus Gründen, die der athletische
Junge sich gewünscht haben dürfte. Zwar beneideten die Meisten ihn immer noch um seinen
sportlichen Erfolg; aber gleichzeitig war er in den letzten Wochen auch zu einem Lieblingsziel für
genau die Sorte von kleinen Attacken auf die Hoden avanciert, an die Jojo kurz vorher hatte denken
müssen. Inzwischen hatte Josch auch ziemlich gute Reflexe entwickelt und schaffte es, die meisten
Angriffe abzuwehren. Aber wenn er doch einmal zu langsam war, sorgten seine Reaktionen sowie
das Wissen, dass selbst leichte Treffer um Einiges schmerzhafter für ihn waren als für die meisten
Anderen, sofort für hämische Kommentare unter den Jungen.
Der Grund dafür, hatte Jojo damals endlich verstanden, war derselbe gewesen, aus dem er von
Niklas' Aktion spontan so begeistert gewesen war; als hätte Paul seine Gedanken gelesen, hatte er
damals genau in dem Moment hinzugefügt: „Du weißt schon: Neid muss man sich verdienen,
Mitleid kriegt man geschenkt...“
Dann war der Lehrer zur Tür reingekommen und sie mussten ihr Gespräch erst einmal
unterbrechen. Aber Jojo nutzte die Stunde, um über das nachzudenken, was Paul ihm klargemacht
hatte, und am Ende der 45 Minuten spürte er, wie sein Ärger und seine Frustration zum größten Teil
verflogen waren. Paul hatte ihm eine völlig neue Perspektive gegeben, die es ihm erlaubte, die auf
den ersten Blick fiesen Reaktionen der Jungen als indirekte Komplimente zu verstehen: Sie hatten
sich nur darum so auf ihn eingeschossen, wenn er einmal der Dumme war, weil es meistens eben
andersherum war – genauso wie er damals das eine Mal genossen hatte, als Josch zur Abwechslung
nicht der strahlende Held gewesen war.
Es war kein Zufall, dass Jojo gerade jetzt, wo er spürte, wie die kalte Apfelschorle das Feuer in
seinem überhitzten Körper löschte, an dieses Ereignis zurückdenken musste. Denn Pauls
Denkanstöße hatten damals eine sehr ähnliche Wirkung auf ihn gehabt: Das zornige Glühen hinter
seinen Schläfen war schlagartig abgekühlt und einer neuen Klarheit gewichen. Und das war nicht
folgenlos geblieben: Bei der nächsten schwachen Bemerkung von Ole grinste er bloß und schoss
sofort zurück – was ihm erst ein überraschtes Keuchen von seinem Kumpel und dann eine Runde
anerkennendes Gelächter von den drei, vier Jungen einbrachte, die sich im Halbkreis um ihn herum
aufgebaut und schon darauf gefreut hatten, den Ärger in seinem Gesicht zu sehen.
In diesem Stil ging es noch ein paar Tage weiter:
„Komm, Jojo, geh'n wir schnell wohin, wo keine Sechstklässlerinnen sind!“ - „Wieso, hast du dich
mit deiner Freundin gestritten?“
„Jojo, im Sportladen sind Eierschützer im Angebot, soll ich dir einen mitbringen?“ - „Brauchst
nicht, XXXL kriegen sie erst nächste Woche rein.“
„Hey, Jojo, wir sollen jetzt in Geschichte Referate halten. Hab mir gedacht, dass ich über weibliche
Gladiatoren bei den Römern mach. Du bist doch da sicher Experte zu dem Thema, oder?“ - „Klar,
aber frag lieber deine Mom, die war damals live dabei!“
Trotzdem: Dass Jojo gelernt hatte, mit den Sticheleien der Jungen umzugehen, hieß nicht, dass er
Lust darauf hatte, ständig von diesem neuerworbenen Talent Gebrauch machen zu müssen. Denn
Pauls Erklärungen hin oder her: Fakt blieb, dass für relativ beliebte Jungen wie ihn und Josch noch
ein anderes Sprichwort ebenfalls stimmte: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu
sorgen.“
Jedenfalls war Jojo seit diesem Erlebnis einigermaßen paranoid, dass ihm so etwas noch einmal vor
Zeugen passieren und ihn wieder zwei Wochen lang zum Buhmann der halben Schule machen
könnte. Und deshalb hätte der drahtige Junge in diesem Moment schwer entscheiden können, was
sich angenehmer anfühlte: Das Gefühl, wie die Schmerzen zwischen seinen Beinen allmählich
abklangen, oder die immense Erleichterung darüber, dass niemand den Fauxpas bemerkt hatte!
Besonders wenn er an das potentielle Publikum dachte...
Jojo hatte Paul zwar genüsslich damit aufgezogen, dass dem die teuflische Ballmaschine gerade
deswegen zum Verhängnis geworden war, weil er den Mädels auf dem Nebenfeld hinterhergeschaut
hatte; nicht gesagt hatte er ihm allerdings, dass er selbst kein Stück besser gewesen war. Natürlich
waren ihm die sportlichen Mädels genauso schnell aufgefallen wie seinem Kumpel – besonders die
Dunkelhaarige, die ihm zu seiner Überraschung sogar vage bekannt vorgekommen war.
Wahrscheinlich hatte er sie an seiner Schule mal auf dem Pausenhof gesehen, denn er bezweifelte,
dass das hochgewachsene Mädchen in seinem Alter war. Aber sie hatte verdammt gut ausgesehen,
besonders in diesem kurzen Moment, wo sie breitbeinig mit nach vorn gebeugtem Oberkörper auf
den Aufschlag ihrer Gegnerin gewartet und ihm einen aufregenden Einblick in ihren Ausschnitt
gewährt hatte... Und wenn er ganz ehrlich zu sich war, hätte er die vertrackte Funktionsweise der
Maschine vielleicht auch etwas früher in den Griff bekommen, wenn er nicht immer wieder
unauffällig rüber geschaut hätte.
Jedenfalls trieb ihm die bloße Vorstellung, wie er und Paul sich keuchend und wimmernd im roten
Sand wälzten, während vier sportliche Mädels die „Show“ voll mitbekamen, vielleicht
kommentierten und ganz sicher darüber kicherten (Mädchen kicherten immer!), den kalten Schweiß
auf die Stirn. Bei Sticheleien von Jungs konnte er inzwischen auch darum ganz gut kontern, weil es
da meistens nur eine Frage der Zeit war, bis es sie selbst erwischen würde. Jeder Junge wusste das,
und deshalb gab es sogar dann, wenn man den Betroffenen nicht besonders mochte, eine gewisse
Hemmschwelle, es mit dem Spott zu übertreiben, die für Mädchen logischerweise nicht existierte.
Außerdem: Wenn der „Erstkontakt“ zwischen ihm und der Dunkelhaarigen so abgelaufen wäre,
hätte er seine Hoffnung, sie jemals wieder mit irgendwas zu beeindrucken, wohl gleich begraben
können...
Aus den Augenwinkeln bemerkte Jojo eine Bewegung und sah kurz darauf, dass Paul sich gerade
aufgerichtet hatte und dabei war, sich die Sporttasche umzuhängen. Sofort spürte Jojo, wie das
schlechte Gewissen, das sich langsam an ihn herangeschlichen hatte, den Anblick seines Kumpels
nutzte, um ihn einen kräftigen Stich zu versetzen. Jetzt, wo sein Verstand nicht mehr von der Frage
absorbiert war, wann die höllischen Schmerzen in seinen Hoden endlich aufhören würden, erinnerte
er sich wieder daran, warum sie ursprünglich hier gewesen waren – und dass es irgendwie ja doch
seine Schuld war, dass Paul heute nicht mehr das Training bekommen würde, auf das er eigentlich
gehofft hatte. Klar, sein Kumpel war abgelenkt gewesen, und dass der Ball sie beide kurz
nacheinander ausgerechnet an genau dieser Stelle getroffen hatte, war Pech, wie man es fast nur im Film zu
sehen bekam; aber dass er Paul fest versprochen hatte, ihm zu helfen, nur um ihn dann im
schlimmsten Fall zwei Tage Training zu kosten, fühlte sich gerade ziemlich mies an, zumal Jojo
genau wusste, wie wichtig seinem Kumpel das Turnier war.
Der sportliche Junge stieß einen unhörbaren Seufzer aus. Oh, Mann...
Natürlich wusste er, was er zu tun hatte; und er wusste auch, dass er es jetzt nicht mehr länger
aufschieben konnte. Also packte er schnell sein Wasser weg, warf sich seine eigene Tasche über die
Schulter und ging auf Paul zu.
*
Ein einziger Blick in Jojo's Gesicht genügte Paul, um abschätzen zu können, was er ihm gleich
sagen würde. Einen Moment lang musste der dunkelhaarige Junge ein Grinsen unterdrücken. Egal,
was man seinem impulsiven Kumpel sonst vielleicht vorwerfen konnte, eines musste er ihm lassen:
Er war so ehrlich, dass er sein Herz nicht bloß auf der Zunge, sondern mitten im Gesicht zu tragen
schien! Wer mit Jojo redete, wusste eigentlich immer ziemlich genau, woran er war, selbst wenn er
keine besonders ausgeprägte Menschenkenntnis oder Beobachtungsgabe besaß – und Paul hatte
inzwischen ziemlich viel von beidem.
Anders als Jojo, der lieber zehnmal handelte, bevor er einmal überlegte, war Paul schon immer eher
der nachdenkliche Typ gewesen, der es hasste, wenn er irgendetwas nicht verstehen konnte, und
sich dann oft so lange den Verstand zermarterte, bis es endlich Sinn für ihn ergab. Wie
unterschiedlich sein Kumpel und er in dieser Hinsicht waren, war ihm so richtig erst klar geworden,
als er Jojo ein paar Tage nach dessen schmerzhafter Kung-Fu-Stunde in ein paar Sätzen das
schadenfrohe Verhalten der anderen Jungen erklärt hatte. Für ihn war das völlig logisch gewesen;
aber auf Jojo hatte es die Wirkung einer mittleren Offenbarung gehabt.
Tatsächlich war die Freundschaft zwischen ihnen erst danach so eng geworden, wie sie jetzt war,
weil beide plötzlich gemerkt hatten, wie gut sie sich ergänzten. Jojo schien ständig zwölf Projekte
gleichzeitig am Laufen zu haben, von denen er elf nach zwei Wochen meistens wieder aufgab; aber
dafür kannte er von den gefühlt hundert Sportvereinen und Partys, die er ständig besuchte, so viele
Leute, dass Paul einmal gescherzt hatte, Jojo bräuchte für die Adressliste in seinem Handy
wahrscheinlich eine eigene SIM-Karte. Pauls eigener Freundeskreis hatte sich dadurch in den
letzten Monaten jedenfalls dramatisch erweitert. Ganz davon abgesehen waren einige von Jojo's
„Kontakten“ noch aus ganz anderen Gründen interessant – Yuri zum Beispiel, der einem für
schlappe 5 Euro STEAM-Schlüssel für jedes Computerspiel organisierte das man wollte, oder Jana,
von der praktisch jeder von Jojo's Kumpeln seine Fuß- oder Basketbälle hatte, weil ihr Vater ein
hohes Tier bei einem Sportartikelhersteller war und die Sachen spottbillig besorgen konnte.
Paul dagegen suchte sich seine Freunde etwas vorsichtiger aus als Jojo; außerdem neigte er eher
dazu, sich auf eine Sache zu konzentrieren und sie dafür richtig zu machen – wie zum Beispiel
Tennis, das er seit drei Jahren wie besessen trainierte, mit dem festen Ziel vor Augen, beim
Stadtturnier einen der vorderen Plätze zu belegen. Zu seiner Überraschung war Jojo von seinem
Ehrgeiz richtig beeindruckt gewesen und hatte ihm sofort versprochen, ihn zu unterstützen. Falls
Paul seine Andeutungen richtig interpretiert hatte, würde in drei Wochen eine Horde von dessen
Kumpeln auf den Rängen stehen und ihn wie verrückt anfeuern. Angesichts der Konkurrenz, die er
dort haben würde, konnte ihm diese moralische Unterstützung nur gut tun – vorausgesetzt, dass er
es diesmal schaffte, den Ball übers Netz und nicht zwischen die Beine zu bekommen...
Paul war außerdem aufgefallen, dass Jojo seitdem immer als erstes ihn um Rat fragte, wenn er
irgendeine Entscheidung treffen musste oder unsicher war, wie er mit einem bestimmten Problem
umgehen sollte. Da das Gehirn seines Kumpels alle fünf Minuten irgendeine neue Idee auszubrüten
schien, passierte das ziemlich oft, und Pauls gute Ratschläge hatten ihn schon mehrmals davor
bewahrt, sich in Abenteuer zu stürzen, die er danach wahrscheinlich bereut hätte. Jojo war dann
regelmäßig baff, wenn er merkte, dass Paul wieder mal drei Schritte weiter war und plötzlich
anfing, ihn vor Stolpersteinen zu warnen, von denen er noch nicht einmal geahnt hatte, dass sie
überhaupt da waren.
Zufrieden ließ sich Paul bestätigen, dass er wieder einmal richtig gelegen hatte, als Jojo zwei
Schritte vor ihm stehen blieb, mit schiefem Grinsen die Arme ausbreitete und in schuldbewusstem
Ton sagte: „Hey Mann – sorry, wie das heute gelaufen ist! Ich hab's echt SO vermasselt...“
Diesmal unterdrückte Paul sein Grinsen nicht mehr. Sein Kumpel hatte wirklich unverschämtes
Glück: Vor zehn Minuten hätte er ihn wahrscheinlich noch ziemlich unwirsch angemault, so mies,
wie er da noch drauf gewesen war. Aber inzwischen hatte ein unerwarteter Sonnenstrahl dafür
gesorgt, dass sich die Wolken über seinem Gemüt weitgehend verzogen hatten...
Im Gegensatz zu Jojo war es für Paul nur ein relativ schwacher Trost gewesen, dass es anscheinend
niemand mitbekommen hatte, wie ihm die Höllenmaschine den steinharten Ball in die Bälle
gefeuert hatte. Gut, die vier Mädels hätte er zwar auch nicht gerne als "Kron(juwelen)zeuginnen" gehabt; aber die beiden Jungs, die auf der Wiese daneben gebolzt hatten, bis Jojo und er ihre
Schläger ausgepackt hatten, wären ihm relativ egal gewesen. Sie schienen ungefähr in seinem Alter
gewesen zu sein, also mussten sie genau wissen, wie ein Junge reagierte, wenn er an dieser Stelle
getroffen wurde; und wie viel genau die Mädels – selbst wenn sie etwas älter waren als er –
wirklich über die Schwachstelle von Jungen wussten, da war er sich immer noch nicht ganz sicher.
Vielleicht hätte er einfach so tun können, als ob der Ball ihn in den Bauch getroffen hätte? Wer
weiß, vielleicht hätte die Blonde ihn sogar bemitleidet und seine Tapferkeit bewundert, wenn er es
geschafft hätte, so zu tun, als ob es nicht so schlimm gewesen wäre. Diese Vorstellung hatte Paul
ziemlich gut gefallen – bis der rationale Teil seines Verstandes wieder ein Stockwerk nach oben
gewandert war und ihn daran erinnert hatte, dass er unmittelbar nach dem Einschlag des Tennisballs
in seine Nüsse fast den makellos sauberen Sand vollgekotzt hatte...
Diese extreme Reaktion seines Körpers – wie er Minuten lang keinen klaren Gedanken mehr fassen
konnte, während pulsierende Schmerzen vom Zentrum seiner Hoden aus wie gezackte Blitze nach
oben zuckten und versuchten, seinen Magen zu entleeren – alles das (wieder einmal)
durchzumachen, hatte wenig später die langsam verebbende körperliche Übelkeit durch ein
mindestens genau so starkes Gefühl der Frustration ersetzt. Aber das hatte sich – anders als Jojo zu
glauben schien – nur zum kleineren Teil aus dem Ärger über den verlorenen Trainingstag oder die
Schmerzen selbst gespeist.
Eine Nebenwirkung von Pauls Neigung zum Nachdenken war, dass er potenzielle Probleme nicht
nur früher erkannte als viele Andere, sondern sich auch länger darüber Sorgen machte – bis sie dann
meistens real wurden und seine Befürchtungen bestätigten. Genauso war es auch nach der
verhängnisvollen Rangelei mit seinem Bruder vor einem Jahr gewesen: Nach dem anfänglichen
Schock über die völlig ungewohnten Schmerzen und der Erleichterung darüber, dass seine Hoden
entgegen seiner Befürchtungen noch „ganz“ waren, hatte ihn den ganzen restlichen Tag über die
Frage verfolgt, wie viel sich sein Bruder in Zukunft noch von ihm sagen lassen würde. Bisher war
immer klar gewesen, dass er, Paul, zwischen ihnen den Ton angab – schließlich war er älter und
stärker als Pascal, sodass Rangeleien unter ihnen meistens ein schnelles Ende zu seinen Gunsten
fanden. Aber jetzt? Würde sein Bruder ihn überhaupt noch ernst nehmen, wenn er wusste, dass Paul
diesen Notfallschalter zwischen den Beinen hatte?
Pascals Verhalten in den folgenden Tagen hatte Paul allerdings schnell Entwarnung gegeben. Zwar
zog ihn sein Bruder noch ein paar Mal mit seiner ungewohnten Niederlage auf; allerdings verstand
er diesen Spott wohl eher als Mutprobe und wirkte dabei so, als würde er jeden Moment erwarten,
dass der Ältere die Geduld verlieren und ihm genervt eine klatschen würde. Er schien sich nicht
einmal darüber im Klaren zu sein, dass er Paul unabsichtlich in die Eier getreten hatte – und der
hatte natürlich den Teufel getan, es ihm auf die Nase zu binden!
Aber trotzdem waren seine Sorgen nicht ganz verstummt. Was, wenn ihm so etwas auf dem
Pausenhof passierte? Waren andere Jungs fixer im Kopf als Pascal und wussten genau um die
Schwachstelle ihrer älteren Geschlechtsgenossen? War es überhaupt eine allgemeine
„Schwachstelle“ oder ein Problem, das nur er hatte?
Zumindest die letzte Frage war nicht lange eine geblieben: Als mehr und mehr Jungen aus seiner
Klasse und seinem Bekanntenkreis in die Pubertät kamen, wurde ihm schnell klar, dass er nur früher
dran gewesen war – und weniger Glück gehabt hatte – als die meisten anderen. Diese Erkenntnis
sollte Paul allerdings nur kurz beruhigen. Denn bei den relativ leichten, scherzhaften Angriffen auf
die Hoden, wie sie gegen Ende der sechsten Klasse bereits normal waren, blieb es nicht. Die waren
für den betroffenen Jungen zwar oft lästig und sorgten für einige Lacher; aber wirklich schmerzhaft
oder peinlich wurde es dabei fast nie. Anders war das bei handfesteren Auseinandersetzungen, die
auf dem Pausenhof der Realschule, die Paul und Jojo besuchten, genauso an der Tagesordnung
waren wie überall sonst. Schon gegen Mitte der siebten Klasse passierte es immer häufiger, dass
solche Raufereien damit ausgingen, dass es einem der beiden Streithähne gelang, den anderen durch
einen gut gezielten Tritt zwischen die Beine außer Gefecht zu setzen. Dadurch konnte es passieren,
dass eine Rangelei dieser Art zur Überraschung der Umstehenden schon nach ein paar Sekunden ihr
jähes Ende fand; als viel krasseren Unterschied zu früher empfand Paul jedoch das, was danach
passierte.
Bisher hatte eine Niederlage meistens so ausgesehen, dass der Unterlegene sich kurz im
Schwitzkasten des Siegers winden musste, bevor er einsah, dass er verloren hatte; maximal stand er
vielleicht ein paar Momente vornübergebeugt da, wenn er einen Schlag in den Bauch kassiert hatte.
Aber schon bald war es kein ungewöhnlicher Anblick mehr, wie der Verlierer sich minutenlang vor
seinem Bezwinger am Boden wälzen musste und dabei vor Schmerzen fast immer die Kontrolle
über sich verlor, was sich an einem Strom aus Wimmern, Winseln und Verwünschungen erkennen
ließ, der vom Sieger und seinen Kumpeln regelmäßig mit hämischer Begeisterung ausgekostet
wurde; und selbst von den Unterstützern des Jungen, der verloren hatte, verdrehten regelmäßig
einige die Augen, während die meisten einfach froh waren, dass es nicht sie selbst erwischt hatte.
Dieses „Nachspiel“, wie Paul es nannte, war jedenfalls peinlicher als so ziemlich alles, was vor dem
Einsetzen der Pubertät hätte passieren können, und gerade am Anfang, als viele Jungen noch nicht
wussten, wie sensibel die Hoden in dieser Phase wurden, kostete es manche von ihnen – genau wie
Paul befürchtet hatte – tatsächlich einiges von dem Ansehen, das sie bis dahin genossen hatten. Paul
konnte sich noch gut erinnern, wie schockiert er gewesen war, als er zufällig mitbekam, wie Reto –
der stärkste Junge in ihrer Klasse – zwei Tage nach seinem dreizehnten Geburtstag beim Raufen
von seinem Gegner mit voller Wucht das Knie in die Hoden gerammt bekam, während sie am Boden lagen und sein Gegner ihn gerade mit den Armen die Schultern auf den Boden drückte, bevor er genau gezielt und mit aller Kraft sein Knie vorstieß. Vor Überraschung der plötzlichen Schmerzen begann Reto sogar
zu heulen, was ihm die Würde bei all den anderen seiner Klassenkameraden kostete. Je mehr Jungen in die Pubertät kamen, desto häufiger wurden solche Szenen, und
inzwischen war sich Paul sicher, dass der Ausgang einer Auseinandersetzung zwischen Jungs in
seinem Alter in den meisten Fällen davon abhing, wer zuerst einen Treffer zwischen die Beine
kassierte.
Und es war auch nicht so, dass es besonders einfach gewesen wäre, das zu verhindern. Natürlich
hatte jeder Junge längst verstanden, wie wichtig es war, bei einer Rauferei seine Hoden zu schützen;
aber im Eifer des Gefechtes war das oft leichter gesagt als getan. Hinzu kam noch, dass die Hoden
bei den meisten Jungen seit Beginn der Pubertät im Verhältnis zum Rest ihres Körpers rapide
gewachsen waren; daher stellten sie gerade bei älteren Geschlechtsgenossen oft äußerst einladende
Ziele dar, besonders dann, wenn der betreffende Junge enge Sport- oder Radlerhosen anhatte, die
seine gut entwickelten Teile noch zusätzlich betonten.
Trotzdem: Alles das hatte Paul mehr oder weniger vorausgesehen und sich einigermaßen darauf
vorbereitet. Er hatte zum Beispiel als erster damit angefangen, wann immer möglich weite Baggyjeans zu tragen, die zumindest verhinderten, dass jemand beim Rangeln einfach zwischen seine
Beine greifen und ihm die Hoden quetschen konnte. Nach und nach hatte das unter den Jungs
Schule gemacht, bis Jojo einmal gescherzt hatte, die ganzen Rapper, die mit ihren Modelabeln
Millionen verdienten, müssten ihm eigentlich alle Provision zahlen. Paul hatte auch als erster
begonnen, beim Fußball konsequent ein Suspensorium zu tragen. Zu Beginn hatte ihm das noch
ziemlich viel Spott eingetragen; der hatte sich aber schnell gelegt, als mehr und mehr seiner Kumpel
herausfanden, wie „angenehm“ es war, wenn ein schlecht geschossener Ball vor dem Bodenkontakt
noch Hodenkontakt bekam...
Dass man seine Juwelen nicht immer perfekt schützen konnte, war Paul dabei von Anfang an klar
gewesen; was aber selbst er nicht voraussehen konnte, war, dass die Wirrungen der Pubertät dazu
führen würden, dass die Jungen ihre Hoden irgendwann gar nicht mehr schützen wollten...
Schuld daran waren die Mädels. Naja – manche Mädels, die interessanten, um genau zu sein –
solche wie Sandra oder ihre dunkelhaarige Freundin eben. Solche Mädels konnten einen Jungen
dazu bringen, sich stundenlang darüber den Kopf zu zerbrechen, wie er es anstellen sollte, sie zu
beeindrucken. Oder anzusprechen. Oder sich einfach nicht in ihrer Nähe zum Affen zu machen. Das
alles schien ungefähr gleich schwer zu sein, denn Mädchen – hier waren sich alle Jungs einig –
waren komisch, und was Jungs richtig stark fanden, war ihnen meistens genauso gleichgültig wie
die Jungs selbst. Wobei...das stimmte nicht ganz. Eines war Paul und mit ihm den meisten Jungs
inzwischen nämlich klar geworden: Mädels konnten Jungs sehr wohl toll finden und sie sogar
richtig anhimmeln – bloß nie die in ihrem eigenen Alter, sondern immer nur solche, die mindestens
drei Jahre älter waren!
Das hatte niemand je besser in Worte gefasst als sein Kumpel Heinz. Der hatte sich einmal den
ganzen Vormittag ein Bein ausgerissen, um irgendwie mit Carina, einer hübschen Rothaarigen aus
der Parallelklasse, ins Gespräch zu kommen, nur um wieder und wieder gnadenlos bei ihr
abzublitzen. Und dann hatte er gesehen, wie Jonas, der drei Jahre ältere Bruder seines besten
Freundes, auf dem Weg zum Parkplatz durch die Mensa gekommen war und Carina ein beiläufiges
„Yo, Cari“ hingeworfen hatte, ohne auch nur seinen Motorradhelm abzunehmen.
„...und stell dir vor: Die blöde Kuh hat den plötzlich angestrahlt wie'n Atomreaktor und so voll
gezwitschert: 'Heyyyy Johnny!!!' SO zum Kotzen, ey...uns behandeln sie wie Luft und die Älteren
brauchen sie wie die Luft zum Atmen, oder was...“.
Paul hatte damals lachen müssen: Heinz war so ziemlich der einzige Junge in seiner Klasse, der gut
in Deutsch war; sogar einen Schreibwettbewerb hatte er schon mal gewonnen, und in solchen
Momenten merkte man, warum! Aber er hatte recht: Ältere Jungs schienen auf Mädels eine beinahe
magische Anziehungskraft auszuüben – also waren Paul und seine Altersgenossen recht bald zu
dem Schluss gekommen, dass sie irgendwie versuchen mussten, so zu sein wie ihre Rivalen, die
ihnen zwei, drei Jahre voraus hatten.
Es war halt nur leider so viel leichter gesagt als getan.
Ein paar der größten „Wettbewerbsvorteile“ – eigene Mopeds, mehr Geld und größere Freiheit von
den Eltern – waren von vornherein unerreichbar; statt dessen hatten die meisten Jungs in Pauls Alter
Fahrräder, ein mickriges Taschengeld und mussten um acht(!) zu Hause sein. „Dezidiert uncool“
hatte Sven, der Klassenstreber, der vom Gymnasium geflogen war, weil er bei dem Versuch
erwischt worden war, in der Mädchenumkleide Kameras zu installieren, das einmal genannt, und
Paul hatte ihm recht gegeben, auch wenn er keine Ahnung hatte, was „dezidiert“ bedeutete. Uncool
war auch der Stimmbruch; oder, wie Heinz das wieder einmal besser auf den Punkt gebracht hatte
als jeder Andere: „Wenn mein Bruder laut wird, wackeln die Wände; wenn ich laut werd, klirren die
Scheiben.“ Und dass die Älteren oft einen ganzen Kopf größer waren, half natürlich auch nicht.
Trotzdem hatten Paul und die anderen Jungs schnell erkannt, dass körperlich noch am ehesten was
zu machen war: Jungs wie Josch und Jojo zeigten ja, dass man auch relativ am Beginn der Pubertät
in Sachen Sport und Muskeln schon einiges erreichen konnte. Wenn Paul ehrlich zu sich war, war
das ein Mitgrund, weshalb er das Tennisspielen seit einem Jahr noch ernster nahm als vorher – und
weshalb er vom Fußball- in den Tennisverein gewechselt hatte, wo es keinen Josch gab, gegen den
niemand eine Chance hatte...
Aber davon abgesehen blieb den meisten von ihnen nicht viel mehr übrig, als das Verhalten der
Älteren eben so gut es ging nachzuahmen. Dabei war Coolness wieder das entscheidende Stichwort:
Wer lässig auftrat und sich traute, den Ton anzugeben, konnte damit Erfolg haben – bei seinen
Kumpels und bei den Mädels. Es war verrückt: Jemand wie Ole, der gegen Sport allergisch war,
aber immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte, kam bei den Mädels fast so gut an wie
Josch – oder Jojo, aber der schien vor lauter Hyperaktivität nie zu merken, wenn ihn jemand toll
fand. „Du musst“, hatte es Heinz wieder Mal auf den Punkt gebracht, „halt Eier in der Hose haben.“
Dumm nur, dass besagte Eier sich ungefähr in derselben Zeit, in der die Jungs cool wurden, zu einer
unerschöpflichen Quelle peinlicher Momente entwickelt hatten. Wer mit einem anderen Jungen
aneinander geriet, konnte es fast bloß falsch machen: Nach zehn Sekunden einen Treffer zwischen
die Beine zu kassieren und jaulend zu Boden zu gehen war uncool, aber leicht nach vorn gebeugt
mit einer Hand seine Hoden zu schützen, während man versuchte, seinen Gegner mit der anderen in
den Griff zu bekommen, wirkte auch nicht besonders souverän. Der einzige Weg dabei gut
auszusehen bestand darin, sich furchtlos und mit erhobenen Fäusten auf seinen Gegner zu stürzen –
in der Hoffnung, dass man ihn entweder schnell unter Kontrolle hatte, oder er vorher Schiss kriegen
würde.
Trotzdem hatte der ansatzweise „Waffenstillstand“ unter den Jungen zu einem Phänomen geführt,
das sogar Paul überrascht hatte.
Als irgendwann die meisten von ihnen in der Pubertät waren und ein Interesse an Mädchen
entwickelt hatten, konnte man sich einigermaßen darauf verlassen, zumindest in der Nähe von
Mädels vor Tritten zwischen die Beine sicher zu sein. Umso erstaunter war Paul gewesen, als er
einmal beobachten konnte, wie sich sein Kumpel Jens auf dem Pausenhof dicht vor einem anderen
Jungen aufbaute, der lässig mit leicht gespreizten Beinen dastand, und dann ohne Vorwarnung sein
Knie hochriss. Der Bursche teilte Pauls Erstaunen wohl, denn er riss sofort die Augen auf, zuckte
panisch mit dem Becken nach hinten und legte schützend eine Hand vorne auf seinen Schritt; dabei
rempelte er fast zwei andere Burschen um, die hinter ihm standen. Erst als Paul zurück zu Jens
blickte, verstand er, was passiert war: Jens hatte das Knie nicht komplett durchgezogen, sondern
kurz vor den Hoden des Jungen abgestoppt. Jetzt stand er grinsend da und genoss den Anblick des
Anderen, der sich erst kleinlaut bei seinen Kumpels entschuldigte und dann schlagartig knallrot
anlief, als zwei Mädels in der Nähe zu kichern anfingen.
Dieses „Andeuten“, wie die Jungen es bald nannten, wurde schnell zu einer beliebten Methode, die
Coolness eines Kumpels auf die Probe zu stellen: Wer es nicht schaffte, den Reflex, seine Hoden zu
schützen, den inzwischen alle Jungen entwickelt hatten, zu unterdrücken, musste erst mal eine
Runde Gelächter und ein paar spöttische Begegnungen über sich ergehen lassen. Wem das dagegen
gelang, konnte seinerseits zum „Gegenangriff“ übergehen. Meistens beließ es der Angegriffene
dann bei einer ironischen Bemerkung; aber manchmal konnte es passieren, dass er wartete, bis sein
Angreifer den Fuß wieder abgesetzt hatte, bevor er seinerseits einen Tritt oder Schlag in die Juwelen
des Anderen andeutete. Das konnte manchmal zwei- dreimal so hin- und hergehen – Paul hatte
sogar mal erlebt, wie zwei Jungs so lange immer knapper abgestoppt hatten, bis einer sich
schließlich verschätzt und den anderen mit einem kräftigen Tritt zu Boden geschickt hatte...
Dieser neue „Stresstest“ war für alle Beteiligten zwar amüsant genug, um sich schnell
durchzusetzen, er hatte allerdings einen unerwarteten Nebeneffekt. Er zog nämlich ein Publikum an,
an das wohl keiner von den älteren Jungen gedacht hatte, nämlich ihre jüngeren
Geschlechtsgenossen. Verblüfft hatte Paul eines Tages beobachtet, wie Pascal und sein Kumpel
Nick sich mit einer Runde Andeuten begrüßten, das sie sich wohl bei den Älteren abgeschaut haben
mussten – obwohl sie in ihrem Alter noch keinen echten Grund dafür hatten, bei einer schnellen
Bewegung in diese Körperregion nervös zu werden...
Paul hatte der Anblick jedenfalls zu denken gegeben: Was, wenn die Jüngeren durch pures
Nachahmen die neue Schwäche ihrer älteren Brüder und Cousins entdeckten? Dass einige schon
etwas ahnten, war in Zeiten von TikTok und YouTube wohl unvermeidbar; aber er hatte keine Lust,
nach der Schule und dem Sport auch noch zu Hause auf seine Hoden aufpassen zu müssen!
Wie es der Zufall wollte, war er gerade heute Nachmittag mit ebenjenem Nick und seinem jüngeren
Cousin zu einer Runde Basketball verabredet gewesen. Nicks Cousin wollte einem Verein beitreten,
der allerdings ziemlich hohe Anforderungen an das Können seiner Mitglieder stellte. Unsicher, ob
er schon gut genug war, hatte ihn Martin – Pauls Cousin – daher gebeten, ob er ihm vielleicht noch
ein paar Tricks zeigen könnte. Da die Bewunderung, die sein Cousin ihm sichtlich entgegenbrachte Paul schon immer gefallen hatte, hatte er natürlich sofort eingewilligt. Erst gestern hatte Martin ihm
dann auf WhatsApp geschrieben, ob er seinen Kumpel Nick mitbringen könnte, der dem Verein
ebenfalls beitreten wollte. Paul war nicht wirklich begeistert gewesen, eben weil er sich nicht sicher
war, wie genau Nick über die Schwachstelle pubertierender Jungen Bescheid wusste; aber Jan,
Nicks älterer Bruder, war einer seiner besten Freunde, also konnte er nicht wirklich ablehnen. Er
hatte sich vorgenommen, das Treffen so weit wie möglich auf Basketball zu beschränken und die
beiden Jungs körperlich so zu erschöpfen, dass sie gar nicht mehr auf die Idee kamen, irgendwelche
unangenehmen Fragen zu stellen.
Und dann das!
Paul war klar, dass er heute nicht mehr Basketball spielen konnte; allein bei der Vorstellung, zu
springen, schienen sich seine Samenstränge zu verkrampfen. Aber absagen konnte er auch nicht
mehr, weil das Aufnahmespiel für den Verein schon morgen Nachmittag war. Die Erkenntnis, dass
nicht einmal ihm irgendeine gute Ausrede einfallen würde, hatte ihn erst mal extrem geärgert. Was
sollte er den beiden denn schon sagen? Davon abgesehen: Selbst wenn ihm etwas Gutes einfallen
würde, hätte er immer noch die beiden Jungs enttäuscht – und Jan, vor allem wenn Nick das
Aufnahmespiel nicht schaffen würde. Und was, wenn er doch irgendeine unglückliche Bewegung
machte und sich vor den Augen der beiden Jüngeren mit schmerzhaft verzogenem Gesicht seine
Hoden halten musste?
Alle diese Befürchtungen und Ärgernisse hatten sich bereits zu einer dunklen Wolke hinter seiner
Stirn verdichtet, als er nach ein paar Schlucken aus seiner Flasche, lustlos auf sein Handy geblickt
hatte. Als hätte das Schicksal seine Situation gesehen und Mitleid mit ihm gehabt, las er in seinen
WhatsApp-Nachrichten: "Hey Paul! Das Game ist erst in zwei wochen weil einer von den trainern Krank ist. Können wir auf
nächste woche oder so verschieben? Weil ich würd dann heut mit nem kumpel ins kino gehen."
Von der Tatsache einmal abgesehen, dass Martin mit der deutschen Rechtschreibung auf Kriegsfuß
stand, hatte Paul in seinem ganzen Leben noch keine so schöne Nachricht gelesen.
Und deshalb maulte Paul Jojo in diesem Moment nicht an, als der sichtlich zerknirscht vor ihm
stand, und er machte auch keine sarkastische Bemerkung. Statt dessen lachte er bloß und legte
seinem Kumpel den Arm um die Schulter. Dann meinte er grinsend: „Hey – vergiss es, okay?
Behalten wir das einfach für uns und...naja, in Zukunft nehmen wir einfach bloß noch
Ballmaschinen mit Kindersicherung...“
Bis hierher hatte Jojo ungläubig zugehört, sichtlich erstaunt darüber, wie locker sein Kumpel das
Debakel wegsteckte; aber bei diesem letzten Kommentar verdrehte er dann doch mit einem
ironischen „Ha, ha“ die Augen und akzeptierte den kleinen Seitenhieb, den Paul sich dann doch
nicht hatte verbeißen können.
Lachend gingen die beiden Freunde schließlich vom Platz, dessen Sand fast so rot war wie das
Auge der kleinen, halb hinter Efeu verborgenen Kamera, die ihnen hinterher zu blicken schien, wie
eine moderne Version der Gargoyles von Notre-Dame.
...Fortsetzung folgt...